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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Unauflösbare Widersprüche

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Durch meine praktische Berufsausbildung bei meinem Vater und [182] meinem Lehrchef hatte ich die Tätigkeit des Landwirts als ein Bemühen kennengelernt, Lebensprozesse von Pflanzen und Tieren einzuleiten, gesund zu erhalten und sich möglichst optimal entwickeln zu lassen. So hatten auch unsere Vorfahren in vielen Generationen ihren Beruf gesehen: ganzheitlich naturverbunden und mit einem kräftigen Schuß Metaphysik. Ein fruchtbarer Boden ist ein lebendiger Boden. Bei meinen Lehrmeistern stand der Begriff der Gare im Vordergrund. Sie hatten nicht die Milliarden von Organismen gezählt, die in einem Spatenstich voll Erde leben. Sie kannten sie nicht einmal mit ihren botanischen und zoologischen Namen. Sie wußten aber aus ihrer Erfahrung heraus, daß ein gesunder Boden außer seinen mineralischen und humosen Bestandteilen auch mikrobiologisches Leben haben muß, um fruchtbar zu sein. Sie hatten die Erfahrung gemacht und in unzähligen Versuchen bestätigt gesehen, in wie großem Umfang durch die mechanische Bearbeitung des Ackerbodens und durch das Pflanzenwachstum organische Masse verbraucht wird. Den Kreislauf von Pflanzen zu Tieren, zum Boden und wieder zurück zu den Pflanzen hielten sie aufrecht und gaben dadurch dem Acker zurück, was ihm durch den Ernteertrag entzogen worden ist. In diesen Kreislauf waren auch die anorganischen Nährstoffe einbezogen. Mein Vater kannte und erklärte mir die Funktion der Bakterien in den Knöllchen an den Wurzeln bestimmter Pflanzen, die durch chemische Umwandlung Stickstoff binden und diesen Nährstoff den Pflanzen in der nächsten Vegetationsperiode nutzbar machen.

Auch die Unkrautbekämpfung wird in dem ganzheitlichen System durchgeführt. So werden durch eine intensive Bodenbearbeitung mit dem Unkrautstriegel und mit der Hacke in den Kulturen nicht nur die Unkräuter vernichtet, sondern gleichzeitig das Bodenleben gefördert. In diesem System ist die Sonne der einzige Energielieferant, der die Bodenzyklen in Gang hält. Die Zufuhr von fossiler Energie aus Öl oder Kohle ist weder bei der Düngung, beim Pflanzenschutz, bei der menschlichen Arbeit und tierischen Zugkraft erforderlich.

[183] Die Pflanzenschädlinge werden nicht durch Erzeugnisse der chemischen Industrie bekämpft. Maikäfer, Raupen, Kartoffelkäfer und andere Schädlinge überläßt man den natürlichen Feinden und führt nicht vernichtende, chemische Großaktionen durch.

In den Semesterferien, in denen ich die Betriebsführung in Altthorn übernahm, machte ich eine sehr aufschlußreiche Beobachtung auf dem Gebiet des biologischen Gleichgewichts der Natur. Ich hatte ein abgeerntetes Weizenfeld mit Erbsen als Zwischenfrucht bestellen lassen. Sie sollten im Spätherbst entweder als Viehfutter siliert oder bei nicht ausreichendem Mengenwachstum zur Bodenverbesserung untergepflügt werden. Nachdem die Saat aufgegangen und die Pflanzen sich in den ersten Tagen gut entwickelt hatten, stellte ich plötzlich fest, daß sie von Blattläusen befallen waren. Von meinen naturwissenschaftlichen Lehrern in Danzig hatte ich noch nichts gehört, was dagegen zu tun sei. Ich befürchtete, von den Bauern der Nachbarschaft mit Hohn und Spott ob meiner theoretischen Kenntnisse überschüttet zu werden, wenn das Erbsenfeld vollends die Beute der unersättlichen Blattläuse werden sollte. Als der Schädlingsbefall seinen Höhepunkt erreicht hatte, beobachtete ich, wie ein Milliardenheer von Marienkäferlarven von den Feldrändern her die Schädlinge soweit dezimierte, daß trotz meiner schlimmsten Befürchtungen ein üppiger Erbsenbestand heranwuchs. Die oberirdische Ernte des Feldes war ein guter Schnitt an eiweißhaltigem Viehfutter, der unterirdische Ertrag ein mit Stickstoff der Knöllchenbakterien und mit organischer Wurzelmasse angereicherter Boden.

In den ersten Semestern meines Landwirtschaftsstudiums wurde ich in die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Botanik, Zoologie, Chemie und Geologie eingeführt. Die wissenschaftliche Methode, die Natur zu erkennen, unterschied sich grundlegend von dem, was ich bisher gelernt hatte. Mir war ein Erfahrungswissen vermittelt worden, das den Boden, die Pflanzen, die Haustiere und den landwirtschaftlichen Betrieb insgesamt als ein System von Organismen ver[184]schiedener Größenordnung ansieht. Gesundheit, Krankheit und Tod sind für den Landwirt in diesem System zentrale Begriffe. Es ist deswegen kein Zufall, sondern entspricht einer inneren Logik, daß der Vater der deutschen Agrarwissenschaften, Albrecht Daniel Thaer, ein Arzt war. Die wissenschaftliche Methode, in die ich durch meine Danziger Lehrer eingeführt wurde, beruhte nicht auf einer ganzheitlichen Sicht des Lebens, sondern auf einer analytischen, mechanistischen Anschauung von der Materie und den Organismen. Es war unmöglich, eine Brücke zwischen der Natursicht meiner Lehrmeister und der Professoren zu finden, die mich in die Grundlagen der Naturwissenschaften einführten. Ich fand damals keine Erklärung für die tiefe Kluft, die zwischen den beiden Weltanschauungen lag.

In dem Fach anorganische Chemie hörte ich ein Semester lang eine Vorlesung über das Periodische System der Elemente. Das ist eine Anordnung der chemischen Grundstoffe nach der Struktur und dem Gewicht der Atome. Die Elemente, die in der Natur vorkommen, wurden von verschiedenen Forschern mit Hilfe chemischer Analysen und Experimente entdeckt. Es sind die Stoffe, die sich mit dieser wissenschaftlichen Methode nicht weiter zerlegen lassen. Wasserstoff und Sauerstoff sind die Elemente, aus denen bei der Photosynthese durch die Pflanze Biomasse gebildet wird. Die Sonne dient dabei als alleinige Energiequelle. Zum Wachstum benötigen die Organismen die Nährstoffe Stickstoff, Kalium, Phosphor und viele Spurenelemente. Das alles war aufschlußreich und faszinierte mich. Ich sog die Wissenschaft auf wie ein trockener Schwamm. Es kommt darauf an, dachte ich, die chemischen Grundstoffe in der richtigen Weise zusammenzusetzen, dann würde durch rational gelenkte Reaktionen ein gesunder Organismus entstehen und sich entwickeln. Es hatte lange gedauert, bis ich den Trugschluß erkannte, dem ich verfallen war, der darin bestand, daß in diesem wissenschaftlichen Denkansatz Geist und Materie zwei voneinander unabhängige Bereiche des Lebens sind.

Mit völlig ungeordneten Gedanken wurde ich im Februar ein[185]undvierzig zur Luftwaffe in Graudenz eingezogen. Hier erhielt ich eine infanteristische Grundausbildung. Während meiner Rekrutenzeit in Graudenz fand Hitlers erfolgreicher Angriff auf Jugoslawien und Griechenland, der Flug von Rudolph Hess nach England und der militärische Aufmarsch für den Rußlandfeldzug statt. Diesen Ereignissen waren spektakuläre Siege Hitlers im Westen vorausgegangen.

Von Graudenz aus besuchte ich einige Male meine Mutter in Altthorn und meine Schwester Ursula in Großputz. Meine Mutter hatte sich vollkommen in die Rolle der Betriebsleiterin eingelebt. Sie war selbstbewußt und von ihren täglichen Pflichten voll erfüllt. Bei einem dieser Besuche erzählte sie mir einen Vorfall, der schlaglichtartig die politische Lage unserer Familie beleuchtete. In der Niederung hatten die braunen Uniformen die Bühne betreten. Der Ortsgruppenleiter der Nazipartei, ein Bauer aus Gurske, hatte meine Mutter zu sich zitiert. Aus ihrem Bericht entnahm ich den Inhalt eines in sehr erregtem Ton geführten Dialogs, den ich zugespitzt an dieser Stelle rekonstruieren möchte.

Ortsgruppenleiter: Ich habe Ihnen befohlen, zu mir zu kommen, weil ich mit Ihnen eine sehr ernste Angelegenheit zu besprechen habe.

Meine Mutter: Sie müssen nicht glauben, daß Sie mich mit Ihrer braunen Uniform und Ihrem Befehlston einschüchtern können. Ich glaube, nach dem Tode meines Mannes meine Pflichten erfüllt zu haben. Sie sind ein Bauer wie wir auch. Nun rücken Sie mal mit Ihrer sehr ernsten Angelegenheit heraus.

Ortsgruppenleiter: Warum ist Ihr jüngster Sohn nicht Parteimitglied?

Meine Mutter: Mein Schwiegersohn Herbert Feldt aus Pensau ist seit November neununddreißig Soldat. Mein Sohn Horst seit Februar einundvierzig ebenfalls. Warum sind Sie und Ihre Parteigenossen aus der Niederung nicht auch Soldaten?

Ortsgruppenleiter: Damit haben Sie meine Frage nicht beantwortet.

Meine Mutter: Ihre Frage kann ich nicht beantworten. Meine [186] zwei ältesten Söhne sind im NS-Kraftfahrcorps in Thorn. Meine beiden Töchter, soweit mir das bekannt ist, auch Mitglieder einer Gliederungsorganisation der Partei. In unserer Familie ist es üblich, daß jeder selber entscheidet, ob er in eine politische Partei eintritt oder nicht. Fragen Sie meinen jüngsten Sohn doch selber, warum er nicht Parteimitglied ist.

Ortsgruppenleiter: Ich habe die Macht, Sie und Ihre Familie zu vernichten, wenn Sie nicht dafür sorgen, daß Ihr jüngster Sohn in die Partei eintritt. Der Führer siegt an allen Fronten. Wir werden die Macht der Volksgemeinschaft einsetzen, diejenigen, die nicht für uns sind, auf den richtigen Weg zu bringen. Heil Hitler.

Meine Mutter fragte mich nach diesem erregten Gespräch mit dem Ortsgruppenleiter bei einem gemeinsamen Spaziergang auf dem Weichseldamm zwischen dem Wachhaus und dem Ausbruch, ob ich wisse, warum ich keine Chance habe, zum Luftwaffenoffizier befördert zu werden. Ich hatte ihr damals geantwortet, ich sei intuitiv für den friedlichen Aufbau und nicht für die Zerstörung. Der Krieg sei sinnlos. Die Antwort hatte meine Mutter nicht befriedigt. Ich wußte nicht, daß sie ihre Frage mit der Drohung des kleinen Hitler, wie wir in der Familie den Ortsgruppenleiter nannten, in Verbindung gebracht hatte. Vielleicht hatte ihm eine Anfrage des Luftwaffenpersonalamtes vorgelegen, ob ich Parteimitglied sei. Das wird ewig ein Geheimnis bleiben.

Bei einem dieser Heimaturlaube erzählte mir meine Mutter die Erfahrungen, die Max Wunsch, der inzwischen auf unserem Hof in die Vertrauensstellung seines Vaters hineingewachsen war, bei der Waffen-SS gemacht hatte. Er war zur Wachmannschaft des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig abkommandiert worden. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatte er meiner Mutter gesagt, daß es für ihn unmöglich sei, diesen Dienst weiter auszuführen. So etwas könne er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Er habe deswegen um Ablösung vom Wachdienst nachgesucht. Seinem Antrag sei stattgegeben worden und er sei zu einer Einheit der Waffen-SS an der Ost[187]front versetzt worden. Schlimmer als die Bewachung eines Arbeitslagers könne der Fronteinsatz auch nicht sein. Max Wunsch war bald darauf in Rußland gefallen.


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004