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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Lebenspläne

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

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Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Die große Freude, wieder deutsch zu sein, in den Grenzen des in unserer Vorstellung verklärten Reiches zu leben, der Unterdrückung und Verfolgung durch unsere bösartigen Feinde entronnen zu sein, erhielt durch den Tod unseres Vaters den ersten Dämpfer. Wir ahnten damals nicht das Ausmaß des Unglücks, das Hitler über unsere Familie bringen würde. Zunächst krempelten wir unverdrossen die Ärmel auf und gingen an die Verwirklichung unserer Lebenspläne. Werner überwand die Schrecken des Polenfeldzuges, den er als unbewaffneter polnischer Soldat mitgemacht hatte, sehr schnell. Er kniete sich zusammen mit Hans-Joachim mit Energie in seine Landmaschinenfirma. Er mußte zunächst ihr Produktionsprogramm umorientieren, denn in den letzten Jahren vor dem Kriege hatten die Herstellung und der Einbau von Holzgasgeneratoren eine immer größere Bedeutung erlangt. In Verhandlungen war es meinen Brüdern gelungen, von der Hauptstadt Warschau einen Großauftrag zu bekommen. Sie sollten den gesamten Nahverkehr, soweit er mit Omnibussen betrieben wurde, auf Holzgas umstellen. Die Generatorproduktion war angelaufen, konnte aber infolge des Polenkrieges im vorgesehenen Umfang nicht fortgesetzt werden. Schließlich wurde sie ganz eingestellt, da die Stadtverwaltung von Warschau den Auftrag nicht erneuerte. Werner bemühte sich um Ersatz, den er von der deutschen Militärverwaltung bekam. Während des gesamten Zweiten Weltkrieges hatte er auf seinem Fabrikgelände einen sogenannten Heimatkraftfahrzeugpark. In ihm wurden Wehrmachtsfahrzeuge repariert. Außerdem ließ er Einzelteile für Rüstungsgüter produzieren. Zusammen mit dem Landmaschinenhandel, den er weiterhin als das Standbein seiner Firma ansah, führten diese Aufträge im Rahmen der Kriegswirtschaft zum Aufbau [176] eines großen mittelständischen Handels- und Industriebetriebes. Hans-Joachim schied neununddreißig aus der Firma HAWEKA aus und machte sich als Mineralölkaufmann selbständig. Kurz nachdem er seine eigene Großhandelsfirma gegründet hatte, fuhr er zu seiner Freundin Ursula Radtke, die wir bereits kennengelernt haben, nach Danzig und sagte zu ihr, er habe jetzt eine eigene Existenz, es könne geheiratet werden. Es gab damals in dem neu gebildeten Gau Danzig-Westpreußen im Mineralölsektor nur vier Großhandelsfirmen. Eine von ihnen, die ihren Sitz in Thorn hatte, leitete Hans-Joachim. Damit wurde er der einzige Lieferant für Benzin, Diesel, Petroleum und Mineralöl im Südteil des Gaues Danzig-Westpreußen. Zuerst mußte er eine neue Vertriebsorganisation aufbauen, denn Polen war vor dem Kriege nur sehr mäßig motorisiert. Im Laufe von zwei Jahren hatte er zweiunddreißig Tankstellen mit seiner Firma errichtet.

Als zweiten Schritt nahm er sich vor, Niederlassungen in Thorn, Kulm, Kulmsee, Schönsee, Briesen und Plock aufzubauen. Hier wurden Tanks für Benzin, Diesel, Petroleum und das gesamte Mineralölprogramm installiert. Diese Lager erhielten schließlich auch Gleisanschlüsse für die Reichsbahn. Dadurch wurde ihre Belieferung mit firmeneigenen Kesselwagen möglich. Der Wirtschaftsablauf war in der zentralgelenkten Kriegswirtschaft einfach. Hans-Joachim meldete den Treibstoffbedarf in Danzig bei der Hauptzentrale der Mineralölwirtschaft an. Von dort wurden im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mengen die Kontingente zugeteilt. Die Lieferungen kamen aus Hamburg mit Kesselwagen auf dem Schienenweg. Seine Firma entwickelte sich in der Rechtsform einer offenen Handelsgesellschaft steil aufwärts. Die Familie bewohnte eine Villa  in der Bromberger Vorstadt. Hier wurden im Abstand von zwei Jahren die Söhne Volker und Dietger geboren.

Der Krieg war für uns weit weg. Die russische Grenze, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zwölf Kilometer von Thorn entfernt war, lag jetzt irgendwo im Osten. Sie war [177] im Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin vom 23. August 1939, also wenige Tage vor Ausbruch des Polenkrieges, festgelegt worden. Für meine Familie schien eine lange Periode friedlicher Entwicklung bevorzustehen.

Ursula heiratete ihren Joachim. Die Hochzeit wurde in Altthorn gefeiert. Schwierigkeiten, die dieser Verbindung entgegenstanden, gehörten der Vergangenheit an. Die beiden Schwestern von Joachim, Ilse und Modeste Dahlweid, halfen in Altthorn, die Hochzeitsfeier vorzubereiten. Joachim hatte das Angebot erhalten, Großputz, ein Nachbargut von Bendomin, zu verwalten. Hier konnte er mit seiner jungen Frau im einem malerisch gelegenen Gutshaus wohnen. Der polnische Eigentümer, ein Rechtsanwalt, war mit seiner Familie seit Beginn des Polenkrieges verschollen. Er hatte sich in der Folgezeit nie mehr gemeldet und keine Ansprüche auf seinen Besitz erhoben.

Meine Schwester zog in ein teilweise möbliertes Haus ein. Wie es in unserer Familie üblich war, bekam sie eine vollständige Haushaltsausstattung und die Möbel für zwei Zimmer als Mitgift. Das Gut war von dem Vorbesitzer nicht intensiv bewirtschaftet worden. Die Gebäude, die Ackerkultur und der Viehbestand wiesen offensichtliche Mängel auf, so daß man ohne Übertreibung von polnischer Wirtschaft sprechen konnte. Die Mitarbeiter im Haus und auf dem Hof waren nicht geflohen. Sie wurden vollzählig von Joachim und Ursula übernommen, die beide ihrerseits Angestellte der Treuhandgesellschaft "Ostland" waren.

Ursula hatte vom ersten Tag an naturgemäß am meisten mit dem Hausmädchen Leokadia Krusicki zu tun. Sie verhielt sich meiner Schwester gegenüber loyal.

Joachim stand morgens um einhalb sechs Uhr auf. Sein Arbeitstag begann pünktlich um sechs Uhr. Loscha, wie das Hausmädchen genannt wurde, machte das Frühstück. Als Joachim um acht Uhr hereinkam, war der Frühstückstisch schon gedeckt. Danach ging er hinaus. Sein Reitpferd stand bereits gesattelt vor der Haustür. Der Dienst, den er versah, bestand darin, die Arbeitskräfte an den Stellen, wo sie der Jahreszeit [178] entsprechend eingesetzt waren, zu kontrollieren und weitere Dispositionen für die Arbeitserledigung zu treffen. Loscha versorgte den Haushalt, kochte und las im übrigen meiner Schwester jeden Wunsch von den Augen ab. Obwohl sie als Deutsche nicht anerkannt wurde, entwickelte sich zwischen ihr und meiner Schwester schnell ein vertrauensvolles Verhältnis, das seine unerschütterliche Basis in gegenseitiger persönlicher Sympathie hatte. Ich gehe deswegen auf die menschlichen Beziehungen zwischen Ursula und Loscha ein, weil sie damals symptomatisch für die gute Atmosphäre war, die auf Großputz herrschte. Von einem deutsch-polnischen Gegensatz war nichts zu spüren. Die alten Leute des Gutes, an der Spitze der höfliche und bescheidene Inspektor, gingen ihren Pflichten nach, als wäre neununddreißig nichts geschehen.

Meine Schwester führte, so wie sie es in Altthorn gelernt hatte, eine Hühnerhaltung und einen intensiven Gartenbau ein. Sie hatte in diesen Bereichen nur dispositive Funktionen. Die Arbeiten wurden unter Aufsicht des Inspektors von Frauen des Hofes durchgeführt. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Buchführung und der Lohnabrechnung. Auch hierfür war sie in Altthorn voll ausgebildet worden. Ursula fühlte sich ihrem neuen großen Aufgabenfeld voll gewachsen. Sie wollte, so wie sie es aus Altthorn gewohnt war, im Gemüsegarten oder bei anderen Arbeiten selber mit Hand anlegen. Das duldeten die Leute nicht. Der kaschubische Hausschlachter beispielsweise stellte sich mit verschränkten Armen vor das geschlachtete Schwein und hinderte die gnädige Frau breit grinsend daran, auch nur einen Handschlag zu machen.

Ich habe das Leben auf Großputz kennengelernt, denn nachdem ich im Wintersemester 1939/40 mein Studium an der landwirtschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule in Danzig aufgenommen hatte, war ich nur allzu gern zum Wochenende dorthin gefahren. Zum Gut gehörte ein großer See. Er lag keine fünfzig Meter vom Hause entfernt in einem Tal, das man von der Terrasse aus überblicken konnte. Als ich [179] an einem Sonnabend wieder einmal in Großputz war, sagte ich meiner Schwester, für Sonntag zum Mittagessen würde ich Hechte angeln, sie könne fest damit rechnen. Ich stand am nächsten Tag sehr früh auf, nahm meine Angel, bestieg das Boot und ruderte an die Stellen des weitläufigen Sees, die mir für Hechte verdächtig schienen. Die Sonne ging auf, die Wasservögel wurden munter, der See belebte sich, und ich warf meinen Blinker vergeblich aus. Kein Hecht wollte anbeißen. Es verging eine Stunde und eine zweite. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als es mir bewußt wurde, daß ich mein Versprechen nicht einhalten konnte. Da kam mir die rettende Idee. Der kaschubische Seepächter mußte als Pachtzins soviel Fische abliefern, wie für den Gutshaushalt benötigt wurden. Er setzte sie stets in Kästen, die in Ufernähe im Wasser schwammen. Das wußte ich und ruderte dorthin. In einem von ihnen waren Schleie. Die konnte ich nicht gebrauchen, denn ich hatte versprochen, Hechte zu angeln. Im zweiten Fischkasten waren in der Tat drei Hechte. Ich fing sie mit dem Kescher und brachte sie Loscha mit der Bemerkung, ich hätte sie in aller Frühe geangelt. Erst nachdem wir sie zum Mittagessen gegessen hatten, erzählte ich die wahre Geschichte meines Anglererfolges.

Mein Schwager, der von Theorie in der Landwirtschaft wenig hielt, und deswegen auch meinem Studium skeptisch gegenüberstand, sagte: "Theoretisch müßtest Du die Hechte gefangen haben. Alle Voraussetzungen waren günstig, die Tageszeit, das Wetter, das Fischwasser. Die Praxis sieht aber oft ganz anders aus. Letzten Endes hat doch die praktische Erfahrung unseres Fischereipächters entschieden, ob wir heute Hecht auf dem Tisch gehabt haben oder nicht."

Mein Studium, das ich mir schon lange in den Kopf gesetzt hatte, verlief friedensmäßig. Meinen besonderen Interessen gemäß hörte ich die Pflichtvorlesungen in den naturwissenschaftlichen Grundfächern und nahm an philosophischen Seminaren teil. Meine Mutter hatte schweren Herzens meinem Studium zugestimmt, denn die Verantwortung für unseren Hof in Altthorn [180] lastete nun auf ihren Schultern. Ihre fünf Kinder waren nicht mehr zu Hause, Opa und Oma waren tot. Sie mußte damals unter der Einsamkeit gelitten haben. Meine beiden Brüder, die in Thorn erfolgreiche Unternehmer waren, besuchten sie regelmäßig. Aber der Schwerpunkt des Lebens unserer schnell wachsenden Familie verlagerte sich nach Thorn, wo zuerst bei Werner und Ilse eine Tochter Karin und bald darauf eine zweite Tochter Astrid geboren wurden. Meine Mutter entfaltete mit Hilfe eines Verwalters und eines Beraters eine rege wirtschaftliche Aktivität. Sie überwand die Trauer über den toten Ehemann. Es waren ihr innere Kräfte gewachsen, die wir alle nicht vermutet hatten. Sehr viel Freude bereitete ihr das Gedeihen der großen Familie. Sie hatte, so oft es ihr die Wirtschaftsführung in Altthorn zuließ, auch ihre Töchter in Pensau und in Großputz besucht, besonders dann, wenn sich bei ihnen Enkelkinder ankündigten. Herberts und Ediths älteste Tochter Sybille wuchs heran. Ihr Sohn Siegfried starb infolge einer tückischen Erkrankung.

Zwei Jahre später erblickte in Pensau eine zweite Tochter das Licht der Welt, die den Taufnamen Renate, die Wiedergeborene, erhielt. Auch Dahlweids wollten in dem edlen Wettstreit, der in der Familie ausgebrochen war, nicht nachstehen. Ihr ältester Sohn wurde auf den Namen Rüdiger getauft.

Innerhalb von vier Jahren nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden in unserer Familie sechs Kinder geboren. Meine Mutter hatte damit sechs Enkel und ich vier Nichten und zwei Neffen. Dies allein zeigt, mit welch einer optimistischen Grundeinstellung meine Familie aus dem schicksalsträchtigen Jahr neununddreißig hervorgegangen war. Wir sahen damals den Kriegsausbruch nicht als ein einseitiges, von Hitler kalt geplantes Verbrechen an, das es war, sondern als eine tragische Entwicklung in einem insgesamt gerecht verlaufenden historischen Prozeß. Die Polen hatten Verhandlungen über eine gewaltfreie Revision des Versailler Friedensvertrages mit Unterstützung von Großbritannien ab[181]gelehnt. Die Pläne Hitlers wurden durch das britische Garantieversprechen an Polen vom 31. März 1939 durchkreuzt. Nach Kriegsausbruch hatte der britische Außenminister Edward Frederick Halifax erklärt, jetzt habe man Hitler bei der friedlichen Revision des Versailler Vertrages, die zur deutschen Vormachtstellung auf dem Kontinent geführt hätte, gestoppt. Daß England damals Polen verraten und für seine traditionelle Politik des Gleichgewichts der Kräfte in Europa alleine hat bluten lassen, hatte er nicht gesagt. So wurde das Unrecht von Danzig und des Korridors nicht auf friedlichem Wege aus der Welt geschafft.

Erst als die Umsiedlung der Baltendeutschen und der Besarabiendeutschen nach Posen und Westpreußen durchgeführt wurde, dämmerte es uns, daß Hitler einen großen Teil Osteuropas als Preis für seine sowjetischen Freundschafts- und Grenzverträge bezahlt hatte. Die Teile der dort ansässigen Bevölkerung, die sich dem kommunistischen Joch nicht unterwerfen wollten, flohen aus der von Hitler sanktionierten sowjetischen Interessenssphäre oder wurden als Klassenfeinde aus ihr vertrieben. Wie dem auch sei, in jedem Falle wurden sie ihres Bodeneigentums, ihrer bürgerlichen Freiheit und ihrer Menschenwürde beraubt. In unserer Nachbarschaft in der Niederung wurden Stimmen laut, die im Kern darauf hinausliefen, Hitler würde auch uns ebenso wie die Baltendeutschen, die Besarabiendeutschen und die Bauern der anderen osteuropäischen Völker von den Höfen vertreiben. Das war eine Sicht auf die Geschichte, die fernab des Vorstellungsvermögens unserer Familie lag. Wir sahen diese Vision als den Ruf einer Unke an, die in jedem Bauernschwank auftritt und die die finstersten Prophezeiungen ausstößt. Meine vier Geschwister ließen sich dadurch nicht beeindrucken und gingen unverdrossen ihrer selbständigen Unternehmertätigkeit nach.


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004