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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Unwandelbare Werte

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Seit dem Herbst neununddreißig lebte ich mehr in einer Welt des Traumes als der Wirklichkeit. Beide Bewußtseinsebenen durchdrangen sich gegenseitig so stark, daß ich es heute nicht mehr sagen kann, ob ich eine Szene wirklich erlebt oder nur geträumt hatte. Ist eine scharfe Trennung wichtig oder überhaupt möglich? Für einen Richter mag es von Bedeutung sein, ob der Angeklagte einen Mord begangen oder ob er ihn nur geträumt hat. Für das Gewissen, für die Werteprägung des einzelnen scheint es mir völlig belanglos zu sein. Die Übergänge von Traum und Wirklichkeit sind fließend. Der Traum, der mich im Oktober und November verfolgte, war so gegenständlich, als ob ich ihn wirklich erlebt hatte.

[172] Irgend jemand flüsterte mir zu, er wisse, wer dafür gesorgt habe, daß mein Vater auf die schwarze Liste gesetzt worden war. Es sei der polnische Fischer und Buhnenwärter, der in dem alten Wachhaus auf dem Damm wohne. Diese Mitteilung versetzte mich in eine solche Wut auf den Polen, daß ich das Jagdgewehr von der Wand im Hausflur nahm, es mit zwei Patronen lud und unseren zwei Kilometer langen Feldweg zu dem Wachhaus ging, um diesen gehaßten Menschen umzubringen. Mir schoß durch den verworrenen Kopf, ich müsse die Dämmerung abwarten und mich dann in einem Gebüsch auf die Lauer legen. Das tat ich dann auch und hielt das Gewehr im Anschlag. Es wurde dunkler und dunkler. Wer nicht kam, war dieser verdammte Pole. Ich ging nach Hause, wo mich meine Mutter erwartete. Sie fühlte wohl instinktiv, woher ich kam, und fragte mich, wo ich mit dem Gewehr gewesen sei. Ich antwortete, daß ich den Kerl auf dem Weichseldamm umbringen werde, wenn er morgen abend nach Hause komme.

"Das überlege Dir sehr gut, mein Junge", sagte meine Mutter und fügte die Frage hinzu: "Wie lautet das fünfte Gebot?" Du sollst nicht töten, antwortete ich. "Was heißt das?" fragte sie weiter. Es war wie in der Konfirmandenstunde, ich kam ins Stottern. Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserem Nächsten an, an ... "seinem Leibe" setzte sie flüssig fort "keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Leibesnöten." Ich bewunderte sie, wie gut sie die zehn Gebote auswendig wußte, hängte das Gewehr an den Haken und wachte auf.

Diese Szene hatte ich mehrere Nächte lang geträumt, die auf den Tag folgten, an dem ich das bereits erwähnte Foto meines toten Vaters gesehen hatte. Ist es übertrieben, so fragte ich mich ernstlich, wenn ich behaupte, durch diesen Traum seelisch in einer Zeit gesundet zu sein, die vor Racheakten überquoll. Präziser gesagt, der Schock, unter dem ich stand, ist durch diesen Traum, der sich mehrfach in Form und Inhalt wiederholte, positiv verarbeitet worden. Das vollzog sich ohne Zutun meines Willens und meines Intellekts. Die [173] Rolle, die meine Mutter dabei gespielt hatte, war die eines Schutzengels. Sie ihrerseits ist auf eine höchst merkwürdige Weise dazu befähigt worden. In der Volksschule und im Pfarrhaus in Gurske sowie in ihrem Elternhaus hatte sie Bibelzitate, die drei Hauptstücke des kleinen Katechismus von Doktor Martin Luther, einige Psalmen und Kirchenlieder, aber auch mehrere Verse deutscher Gedichte auswendig lernen müssen. Diese religiöse und humanistische "eiserne Ration" hatte sie bis zu ihrem Tode im vierundachtzigsten Lebensjahr in ihrem Bewußtsein verfügbar und konnte sie in kritischen Situationen abrufen. Zur Kirche ist sie selten gegangen. Wenn mein Vater mit uns Kindern den zwei Kilometer langen Weg dorthin antrat, rief sie uns hinterher, wir sollten für sie mit beten. Das taten wir dann auch. Wenn wir zurückkamen, war das Mittagessen fertig, die Tafel festlich gedeckt mit einem der Jahreszeit entsprechenden, großen Blumenstrauß. Uns erwartete dann stets die Frage: "Na, was hat der Herr Pfarrer gesagt?"

Heute gibt es wohl immer mehr Menschen, bei denen keine christliche Mutter, so wie in meinem Traum, auftritt und die Zwangsvorstellung des Mordens positiv verarbeiten hilft. Wie soll man es sich sonst erklären, daß geistig nicht gestörte Menschen in Schulen eindringen und wahllos Kinder erschießen? Sind sie von einer Zwangsvorstellung besessen, von der sie sich nicht befreien können? Wie soll man sich Gruppenselbstmorde von Sektenmitgliedern erklären? Traum und Wirklichkeit sind zwei Ebenen unseres Bewußtseins. Sie können von Gott oder auch vom Teufel beherrscht sein. Ich habe mich immer gefragt, warum die aufgeklärten Geister des 19. Jahrhunderts nur Gott für tot erklärt haben und nicht den Teufel. Das wäre doch logisch gewesen. In dieser Beziehung gab ich unserem Pfarrer Anuschek noch nachträglich recht.

Der emanzipierte, aufgeklärte, säkularisierte Mensch ist offensichtlich nicht in der Lage, sich seine Werte selbst zu setzen und danach zu leben. Es hat sich nach Nietzsche grauenvoll bestätigt, was er prophetisch vorausgesehen hatte. Ein Zitat aus seinem Nachlaß mag dies belegen: "Die [174] Niedergangsinstinkte sind Herr über die Aufgangsinstinkte geworden. Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben." Eine sehr späte Erkenntnis des großen Philosophen, dessen Intellekt ausschließlich mit dem Sozialen und Menschlichen verwickelt war und dem der Atheismus den Blick auf die metaphysischen Bedürfnisse des Menschen verstellte.

Mein Vater wußte, daß seine Familie einen transzendenten Orientierungsrahmen für das Überleben benötigt. Sein Vermächtnis liegt in seiner Person mit seiner individuellen Werteordnung, seinen christlichen Erziehungsprinzipien, die ich versucht habe, künftigen Generationen der Familie lebendig zu erhalten. Was er uns überzeugend vorgelebt hat und wodurch er uns eine Autorität bleiben wird, war seine Bereitschaft, ein hohes Maß an Verantwortung zu übernehmen. Er leitete sie aus seiner Bindung an Gott, seine Familie, seinen Hof, die Nächsten, seine Heimat und an das deutsche Volkstum ab.

Er war nicht klerikal, ich habe es wohl schon einmal erwähnt. Bismarck hatte in einem Schreiben an Wilhelm, der damals noch Prinz v. Preußen war, festgestellt: "Der evangelische Priester ist, sobald er sich stark genug dazu fühlt, zur Theokratie ebenso geneigt wie der katholische und dabei schwerer mit ihm fertig zu werden, weil er keinen Papst über sich hat. Ich bin ein gläubiger Christ, aber ich fürchte, daß ich in meinem Glauben irre werden könnte, wenn ich wie der Katholik auf priesterliche Vermittlung zu Gott beschränkt wäre." Mit diesen Sätzen ist auch die tiefste Glaubensüberzeugung meines Vaters charakterisiert. Die Zeit, in der er lebte, schloß seine Mitverantwortung für die Politik im Staat und in der Kommune aus. Das bedeutete nicht, daß er keinen politischen Standort hatte. Er befand sich in der preußischen Tradition und bezog von hier aus seinen staatspolitischen Orientierungsrahmen. Dabei schwebte über ihm, ebenso wie Über seinem Vater und über mehreren Generationen vor ihm, das Bild Friedrichs des Großen. In einer Monarchie soll der König sich als erster Diener seines [175] Staates und nicht als sein unumschränkter Machthaber empfinden. Der Kaiser hätte nicht abdanken und außer Landes gehen sollen. Das Deutsche Reich hätte seinen demokratischen Institutionen mehr Einfluß einräumen müssen. So dachte mein Vater.


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004