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Wappen der Familie Krüger aus Thorn

Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Schwarzes Kanonenfutter

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.


Als mein Vater die von ihm selbst aufgenommenen Fotos des Ersten Weltkrieges geordnet und in ein Album eingeklebt hatte, bat ich ihn, er möge sie mir erläutern, damit ich einen unmittelbaren Einblick in seine Kriegserlebnisse bekäme. Das war, nachdem ich den Zeitungsartikel von August Bartz gelesen hatte. Mein Vater blätterte einige Seiten um: "Diese Fotos kennst Du ja. Sie sind ohne Bedeutung." Bei der dritten Seite hielt er inne. Auf ihr waren einige Bil[64]der völlig verwüsteter Wälder: "Da siehst Du den Widersinn der Materialschlachten in Nordfrankreich. Die Baumkronen waren abgeschossen oder die Stämme auf halber Höhe abgeknickt. Diese Bilder werde ich nie vergessen. Die Bäume ragten kahl mit zersplitterten Stümpfen in die Luft. Hier das nächste Bild. Es zeigt einen gefangenen schwarzen, nordamerikanischen Soldaten. Das solltest Du Dir merken. So etwas Brutales habe ich sogar in Rußland nicht erlebt. Eine Einheit nordamerikanischer, schwarzer Soldaten führte unter dem Kommando weißer, angelsächsischer Offiziere einen Sturmangriff auf unsere Stellungen durch. Die Offiziere trieben die vor Angst völlig vertierten Schwarzen in das Sperrfeuer unserer Artillerie. Diejenigen, die von Granattrichter zu Granattrichter springend hindurchgekommen waren, versuchten, durch unsere Stacheldrahtverhaue zu robben. Dann hörte ich die Salven unserer Maschinengewehrnester. Die wenigen Überlebenden hatten sich zurückgezogen, nachdem die Dunkelheit eingebrochen war. Ich habe es nie verstanden, daß sich die weiße, nordamerikanische Führungsschicht soweit erniedrigte, schwarze Soldaten als Kanonenfutter gegen uns einzusetzen. Das wird eines Tages auf die weiße Rasse zurückschlagen. Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen und werden seine Gerechtigkeit verwirklichen. Wir haben die Vereinigten Staaten nie bedroht. Einige ihrer Nachschubschiffe haben wir versenkt, das stimmt. Sie hatten Kriegsgerät für die Alliierten geladen. Die Vereinigten Staaten haben sich daraufhin von Großbritannien ins Schlepptau nehmen lassen und uns den Krieg erklärt. Die Engländer haben an den schwarzen Soldaten ein doppeltes Unrecht getan. Haben wir ihnen jemals Veranlassung gegeben, gegen uns zu kämpfen? Wir haben in unseren Kolonien immer eine höhere Gerechtigkeit geübt und die Schwarzen nicht gegen unsere weißen Kriegsgegner kämpfen lassen. Die Engländer haben zuerst am Sklavenhandel verdient. Über ihre nordamerikanischen Freunde ließen sie dann die Nachkommen der Sklaven für sich die Kohlen aus dem Feuer holen. Wenn man mir von den unmenschlichen Angriffen der schwarzen Soldaten berichtet oder [65] ich es in der Zeitung gelesen hätte, würde ich es Dir nicht erzählen. Ich habe sie von meinem vorgeschobenen Beobachtungsstand aus gesehen. Viele schwarze Soldaten waren zu uns übergelaufen. Die mir gegenüberliegenden Einheiten wurden nach kurzer Zeit aus unserem Frontabschnitt abgezogen. Mein idealistisches Bild vom Menschen ist damals zerbrochen."

Mein Vater legte in Gedanken versunken eine Seite des Albums um. Links war nur ein einziges Foto: ein Bild von ihm in feldgrauer Leutnantsuniform mit Stahlhelm. Sein Gesicht wirkte unter dem gewaltigen Helm schmal, blaß und abgespannt. Der Mund mit den zu stark zusammengepreßten Lippen drückte Resignation aus. So hatte ich ihn in meiner Kindheit nicht kennengelernt. Er war mir so fremd, als wäre es nicht mein Vater. Mein Blick wurde durch das Eiserne Kreuz angezogen. Als er das sah, sagte er: "Von vorne Kugelregen und von hinten Ordensegen. Auf der rechten Seite siehst Du die Fotografie eines Gerätes, das ich erfunden habe. Es wurde in der Deutschen Artillerie eingeführt, nachdem es sich in meinem Lichtmeßtrupp bewährt hatte." Er erklärte mir umständlich, wie es funktioniere. Ich begriff nur, daß es dem Feuerleitoffizier mit Hilfe dieses Apparates leichter und schneller möglich sei, durch entsprechende Messung von Licht und Schall des Abschusses und des Einschlages von Granaten die Richtwerte für die eigenen feuernden Geschütze zu ermitteln. "Hier das nächste Bild", sagte er, "hat für mich symbolischen Wert. Wir hatten eine Stadt in der Champagne nach langem Artilleriebeschuß eingenommen. Nur wenige Tage später mußten wir sie wieder räumen. So ging es hin und her. Wir eroberten sie wieder, ich weiß nicht mehr, zum wievielten Male. Die gotische Kathedrale der Stadt war völlig zerstört. Ihr Turm und Dachstuhl waren eingestürzt, nur die Außenmauern ragten rauchgeschwärzt in den Himmel. Ich ging in den Innenraum der Kirche und sah an der Stelle, wo früher der Altar stand, ein hohes Kruzifix völlig unbeschädigt den Trümmerberg überragen. Ich habe diese Aufnahme ebenso wie alle anderen Bilder mit mei[66]nem Fotoapparat gemacht, den ich den ganzen Krieg über bei mir hatte. Ich liebe dieses Bild, denn das Erlebnis in der französischen Kathedrale hat mir inmitten von Haß, Zerstörung und Sterben eine unerschütterliche Hoffnung eingeflößt." "Werde bitte konkreter", unterbrach ich ihn. "Wenn Dir das nicht genügt, dann muß ich es versuchen, mit der Theologie meines verehrten Dr. Martin Luther zu sagen. Christus am Kreuz stand völlig unbeschädigt nach wochenlangem Artilleriebeschuß von beiden Seiten inmitten von Trümmern und Ruinen. Er war für mich persönlich ein Sinnbild der Hoffnung auf die Gnade Gottes aus seiner Liebe für die Menschen heraus." Auf den letzten Seiten überflogen wir die Fotos von der Ostfront. Die deutschen Soldaten wirkten in den unendlichen Schneelandschaften klein und verloren. Sie hatten weiße Tarnanzüge an und liefen auf Skiern.

"Du weißt es, wie es dann weiterging", setzte mein Vater seinen Erlebnisbericht fort. "Mit fiebrigem Gelenkrheuma wurde ich von der russischen Front in ein Lazarett eingeliefert. Dort hatte ich den Waffenstillstand erlebt. Kein feindlicher Soldat war bis zu diesem Zeitpunkt auf deutschem Boden. Als die Garnison in Thorn revoltierte, war ich schon zu Hause. Ich fuhr nach Thorn und versuchte mit der Soldateska zu sprechen, die dort randalierend durch die Straßen zog. Ich sagte ihnen, sie sollten zu ihren Einheiten oder zu ihren Familien nach Hause gehen. Einige taten es, andere beteiligten sich an den neu gebildeten Soldatenräten, die im Rathaus ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Ihre Herrschaft war nicht von langer Dauer, denn sie setzten den polnischen Truppen des Generals Haller, die in Thorn einmarschierten, keinen Widerstand entgegen. Seitdem ist unsere Heimatstadt polnisch. Eine Volksabstimmung wie in anderen westpreußischen Städten und Landkreisen hat bei uns nicht stattgefunden."

Mein Vater blätterte die letzten Seiten um. Dort lag ein Zeitungsartikel mit der Überschrift "Der unbekannte Leutnant", den sein Kriegskamerad August Bartz verfaßt hatte. Er schob ihn zur Seite und klappte das Fotoalbum zu.


 
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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004