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Die Kinderzeit in Gurske  


Auszüge aus der Biographiearbeit von

Renate Tetzlaff, geb. Hagen





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Die Kinderzeit in Gurske

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.

Vater leitete einen ca. 1000 ha großen Landbesitz in Simon, kehrte aber später mit der Familie wieder nach Gurske zurück. Mit ihm kam auch die recht fleißige Arbeiterfamilie Kalinowsky mit den 3 kräftigen Töchtern auf das später ab 1943 bewirtschaftete Grundstück vor dem Deich, links von der Kirche im Dorf: "das Cieminski'sche" (früherer Besitzer wie vorher erwähnt), 71,74 ha. Wir hatten polnische Arbeiter beschäftigt. Ich weiß nicht, wieviel die Arbeiter damals so verdienten. Sicher war es nicht viel, denn sie organisierten sich oft manches.

Im Hühnerstall und Kuhstall mußte aufgepasst werden. Einmal schöpfte mein Vater Verdacht und ging nachts in den Kuhstall. Prompt ertappte er einen Knecht beim Melken!

Zu uns gehörte die Gärtnerei, Weichselfischerei und ein Waldstück von 10 Morgen. Vater wickelte den Verkauf von den Felderträgen wie Weizen, Kartoffeln und Gemüse in Danzig und Thorn ab. Wir waren z.B. Kunde bei der Kreissparkasse Thorn und 2 weiteren Banken. Belege und alte Abrechnungen hierüber hat er in einem Hefter aufbewahrt.

Es ist für mich immer wieder interessant, darin zu schnüffeln, wie man vor 60 Jahren meistens alles per Hand geschrieben hat, was gewogen und gemessen wurde. Und wie die Buchführung erledigt wurde! So ähnlich habe ich noch 1956/57 Buchhaltung in der Kaufmännischen Berufsfachschule Kleemann in Kiel gelernt.

Auf dem Lüneburger Heimattreffen verriet mir einer der Brüder Jabs, früher Gurske, dass mein Vater, wenn er einen guten Verkaufstag hatte, er sich Pralinen gönnte. Auch die "Thorner Katharinchen", die noch heute weltweit berühmt sind, schmeckten ihm sehr!

Zum Markt nach Thorn durfte ich ab und zu mitfahren. Ganz früh morgens ging es los. Mutter kutschierte. Von Gurske ging es auf die Hauptstraße Bromberg - Thorn. Blaubasalt war der Belag. Vorbei ging es an unserem Wald, der bis zur Straße reichte. Diesmal hatten wir Blumen, z. B. Tulpen anzubieten. Schon bevor wir auf dem Marktplatz angekommen waren, bot ich einigen Passanten vom Wagen aus die Blumen an und freute mich riesig, wenn ich die ersten 20 Reichspfennige eingenommen hatte. Als meine Cousine Ilse aus Berlin 12 Tage bei uns zu Besuch war, begleitete sie Mutter am Markttag und bot Gurken und Butter an. Da war ich 5 Jahre alt. Einmal kam Mutter auch ohne die mitgenommene Butter auf dem Markt an. Da hatten sie Diebe schon vom fahrenden Wagen entwendet.

In Thorn angekommen, wurden die Pferde bei der Gaststätte "Netz" ausgespannt und angebunden. Mutti hatte viele Kundinnen, darunter auch Juden. Manchmal wurden Lebensmittel gegen schöne Sachen, wie Blusen und Kristallschalen getauscht. Kristall und das gute Geschirr hatten im Esszimmer Platz.

Die polnischen Hausfrauen merkten sehr bald, dass die Produkte der deutschen Bauern schmackhaft und preiswert waren. Sie kauften auf den Wochenmärkten, im Laden des Hausfrauenvereins, in den deutschen Milchwarengeschäften von Stoller, im Fleischerladen von Dobslaff, im Mehlgeschäft von Czolbe und aßen Kuchen in der alteingeführten Konditorei von Dorsch, die Obst, Beeren und Eier aus Alt-Thorn bezog. Die Bauernfamilien Aus der Niederung hatten die Möglichkeit erkannt, die ihnen der Markt für ihre Erzeugnisse bot und ihre Produktion darauf eingestellt. In Kooperation mit der Groß-Gärtnerei von Max Hentschel in Thorn wurden aus kleinen Anfängen heraus auch Schnittblumen für den überregionalen Markt in Danzig, Warschau und Krakau erzeugt. Die frischen Schnittblumen wurden mit Flugzeugen dorthin geliefert. Das Geschäft hatte sich, basierend auf holländischen Erfahrungen so gut entwickelt, dass die Gärtnerei Hentschel in den 30er Jahren drei Höfe in Gurske kaufte (Anmerkung: u.a. auch den Hof von Oma und Opa Knodel, meinen Großeltern) und hier eine gärtnerische Großproduktion durchführte ….. ff ……(aus der Festschrift zur 750-Jahr-Feier in Thorn)

Der Hof vor dem Deich lag auf einer kleinen Anhöhe. Lothar lud mich eines Tages auf sein Fahrrad und wir sausten den Berg hinunter. Das fand ich Klasse, aber Mutti schlug die Hände überm Kopf zusammen und fand es viel zu gefährlich. Schade, dass mein Bruder dann schon wieder aufs Feld zu den Knechten fuhr, wo er am liebsten war. Und ich hatte wieder niemanden zum Spielen!

Mit Genja und Rosemarie, den Polenkindern, sollte ich ja nicht spielen. Mit ihnen war ich am Backhaus gewesen. Wir hatten uns gut verstanden! Es hatte doch so richtigen Spaß gemacht, mit den beiden auf Entdeckungsreise in der Umgebung zu gehen. Draußen tat die Sommerwärme so gut. Warum sollte ich nicht zu ihnen? Warum denn nicht? Mutti, warum nicht?

Mutti machte sich um Lothar oft Sorgen, weil er soviel draußen auf dem Felde und bei den Pferden war und seine Schularbeiten vernachlässigte. Im Sommer fuhr er mit dem Zug nach Thorn zur Schule, im Winter blieb er in Thorn in Pension. Gern schwänzte er auch die Schule, um Fußball zu spielen oder im Zeltlager am Lagerfeuer zu sein. Längere Zeit war auch ein Ferienjunge Joachim aus Aachen, dessen Eltern ausgebombt waren, bei uns. Lothar erzählt mir, dass es über Thorn und Bromberg 1944 viele Flieger, ca. 50 - 100 . Flugzeuge gab, dass es nach 12 Uhr Alarm gab, die Schule ausfiel und die Schüler den Luftschutzkeller aufsuchten.

Eines Tages beschlossen Oma und Mutti, mit mir mit dem Zug nach Thorn zu fahren. Sie zogen sich feine Kleider an, ich bekam auch ein schickes Mäntelchen an und einen roten Hut auf, den ich gar nicht ausstehen konnte. Im Abteil saß mir eine feine Dame mit geschminkten Lippen gegenüber. Ich sagte laut: "Mutti, guck' mal, hat die Frau aber rote Lippen!" Mutti und Oma fanden das ganz peinlich. "Pscht!" Das darf man doch nicht sagen! Sie entschuldigten sich für mein Verhalten. Nun musste ich schweigen. Ich hatte etwas Unrechtes gesagt.

Wenn in den Schulferien zu uns Besuch kam, wurde im Esszimmer festlich gedeckt. Familie Hopp, Tante Hannchen (Vaters Schwester), Onkel Karl (Lehrer in Königsberg) mit Ursel und Harri und Ilse Bigalke kamen gern in den Ferien zu uns. Dann wurden die Pferde zum Reiten aus dem Stall geholt und ein Spazierritt unternommen. Natürlich musste das ja sogleich auf einem Foto festgehalten werden.

Tante Hannchen ging es bei ihrer Ankunft gar nicht gut. Sie musste sich gleich hinlegen und entspannen. Über ihre Unpässlichkeit wurde nicht geredet. Wichtig war für mich, dass sie aus Königsberg Apfelsinen und Schokolade mitgebracht hatte. O, wie lecker die Sachen waren!

Am 07.11.43 wurde mein Schwesterchen Astrid in Thorn geboren. Der Winter hatte Einzug gehalten. Das Bettchen stand am warmen Ofen im Wohn-Schlafraum. Mein Kinderbett stand rechts von den Ehebetten an der Wand. Wenn ich erkältet war, bekam ich das Essen manchmal ans Bett. Oft gab es Fisch, z. B. Zander oder Pilzgerichte. Die Fische wurden uns regelmäßig aus unserer Weichselfischerei geliefert. Ich mochte weder Fisch noch Pilze und schüttete meinen Teller hinter das Bett. Als Mutti das Bett abrückte, kam das Malheur zutage!

Astrid bekam den Keuchhusten. Weil das ansteckend ist, wurde ich zu Oma und Opa nach Thorn gebracht. Beide lebten damals als Rentiers in der Mellin-Straße bei der F1iegeringenieurschule ihnen fühlte ich mich ganz wohl.

Opa zeigte mir, wie man Nägel in den Fußboden klopft, in die Ritzen natürlich!

Oma schmierte mir leckeres Marmeladenbrot. Das aß ich gern und mit Appetit, lieber als das Essen zu Hause!

Tante Grete (Margarethe) und Arno zogen 1943 nach Thorn in die Heiligengeistgasse 11-12.(Arnos Vater blieb vermißt und ist am 02.05.1979 vom Gericht für tot erklärt worden).

Das Weihnachtsfest rückte näher. Lothar verriet mir, dass Mutter schon Geschenke im Esszimmer versteckt hatte. Es war vormittags am Heiligen Abend. Ich war sooo neugierig! Ich guckte durch das Schlüsselloch und Lothar wollte mir beim Aufschließen helfen. Da wurden wir von Mutter ertappt. Fürchterlich böse wurde sie! Nie wieder hätte ich unerlaubterweise den Raum je betreten.

Leider konnte unsere Astrid sich nicht wieder von ihrer Krankheit erholen. Sie starb am 25. Februar 1944 im Städtischen Krankenhaus Thorn, Am Alten Schloß 5/10, und wurde auf dem Friedhof in Gurske beigesetzt. Tante Else Hagen war per Fahrrad von Palsch gekommen und nahm an der Trauerfeier teil.

Vaters Mutter starb am 09. Juni 1944 mit 73 Jahren an starkem Husten. Onkel Kurt erzählte mir, dass Oma bei ihrer Tochter (Tante Hannchen) zur Geburt von Harri (30.01.1923) in Seehof einige Tage gewesen sei. Es war harter Winter, als sie sich mit dem Zug wieder auf die Heimreise machte. Der Zug hatte stundenlange Verspätung, so dass sie sich eine heftige Erkältung zugezogen hatte. Seitdem litt sie häufiger an Husten und verstarb daran. Ich kann mich genau daran erinnern, dass mein Vater sich eine schwarze Trauerbinde an den Anzug heftete.

Auf dem Hof waren Pälla, Kascha, die Mägde und die Knechte Franz, Jannek Gallant, Hans und der Schweitzer, die uns ständig halfen.

In der Ernte hatten wir um die 20 Leute, wie man auf einem Erntefoto sieht. Ich weiß, dass Mutter den Schlüssel der Speisekammer wohlweil3lich immer in ihrer Schürzentasche trug, sonst fehlte unter Umständen plötzlich das Brot. Sie backte immer selber. Ein altes Backhaus war noch vorhanden, aber Mutter benutzte den Backofen in der Küche. Man muss sich vorstellen: In ländlicher Gegend gab es noch keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine Traktoren und Autos! Ein "VW" war von Vater bestellt worden mit einer Lieferzeit von 10 Jahren.

Eine peinliche Begebenheit füllt mir noch gerade ein!

Wir hatten auch einmal den Maler. Der große Wohnraum musste renoviert werden. Es begab sich, dass ich dringend aufs Klo musste. Wir hatten 2 Klosetts. Eins war auf dem Hof, das andere zwar am Haus, aber beide mochte ich nicht so gern. Ich ging lieber aufs Töpfchen. Vor dem Maler genierte ich mich ganz doll. Ich schämte mich, auf dem Topf zu sitzen. Mutter und Pälla waren nebenan in der Küche und ich sollte beim Maler auf dem Topf sitzen! Als der Maler mich dann auch noch "Putti" nannte, fühlte ich mich ziemlich unwohl.

Manchmal fühlte ich mich einsam. Einiges war so sonderbar, oft ging es hektisch zu. Von mir nahm man kaum Notiz.

In dieser Zeit wusste ich noch nichts von Liebe und Hass, von Frieden oder Krieg.


 
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© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 31.07.2004