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Karl Gruber: Das Rathaus von Thorn 


Rathausturm mit Copernicus-Denkmal Karl Gruber
Prof. Dr., Technische Hochschule Damstadt


Das Rathaus in Thorn
Eine baugeschichtliche Untersuchung


in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege Jg 1940/41, Heft 3, S. 50 ff
Berlin 1941

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Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23], bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.
[50]

Die bisherige Bauforschung am Thorner Rathaus hat folgende Bauperioden festgestellt:1)

1.

einen ersten Bau aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, dem im wesentlichen der Turm in seinem unteren Teil bis in die Höhe des Putzfrieses angehört;

2.

den einheitlichen Neubau, auf Grund der von C. Steinbrecht in "Thorn im Mittelalter" veröffentlichten Bauurkunde von 1393;

3.

den Umbau, der kurz nach 1600 von Anthony van Obbergen vorgenommen wurde und welchem im großen und ganzen die heutige Gestalt des Rathauses zu verdanken ist;

4.

einen zweiten Umbau bzw. eine Instandsetzung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nachdem im Jahre 1703 das Rathaus bei der Beschießung durch die Schweden abgebrannt war.

Das 19. Jahrhundert und das 20. Jahrhundert haben durch vielerlei Umbauten das Rathaus stark verändert, namentlich im Erdgeschoß.

Die Bauaufnahme, welche im März und April 1940 auf Anordnung des Oberbürgermeisters durch Studierende der Technischen Hochschule Darmstadt vorgenommen wurde, gab auch Anlaß zu einer neuen baugeschichtlichen Untersuchung, welche sich die Beantwortung folgender Fragen als Ziel gesetzt hatte:

1.

Was ist von dem Zustand vor dem großen Neubau von 1393 im heutigen Bau noch vorhanden?

2.

Wie war der Zustand des Rathauses vor dem Umbau von 1603, insbesondere in seinen oberen Teilen?

Wir wenden uns zunächst den Grundrissen zu. Es fällt uns dabei sofort - wenn wir z.B. das Erdgeschoß betrachten - folgendes auf:

Im Erdgeschoß des Ostflügels (Abb. 59), dessen breiter Mittelgang die Brotbänke enthielt, ist die Einteilung der Gewölbejoche nicht so klar und regelmäßig wie im Westflügel, in welchem die Tuchhalle gelegen hat.

Im Ostflügel kommen, wenn wir den Grundriß von Süden nach Norden betrachten, zunächst anschließend an den Turm zwei schmalere Gewölbejoche, dann kommt als Unterbrechung eine dicke Mauer, die durch einen stichbogenförmigen Gurtbogen unterfangen ist, dann folgen 3 breitere Gewölbe, dann wieder ein Gurtbogen, dann ein vermittelndes unregelmäßiges Kreuzgewölbe; die letzten Gewölbejoche sind dann in derselben Weise wie die Tuchhalle im Westflügel durch Dreiecksgewölbe mit versetzten Widerlagspunkten aufgeteilt.

Eine Beziehung zwischen den Widerlagspunkten der Kreuzgewölbe und den Fensterachsen der Fassade besteht im Ostflügel nur in dessen nördlichem Teil, während in der Mitte und auch an der Hoffassade diese Beziehungen völlig fehlen; zweimal fallen die Widerlagspunkte in das Lichte zwischen den Fassadenpfeilern.

Der heute durch ein Fenster ersetzte Mitteleingang des Ostflügels, der diesen von Osten nach Westen durchbricht, schneidet unregelmäßig in das mittlere der drei gleichen Kreuzgewölbe zwischen den beiden Quermauern; die Mauern dieses Durchganges von den Brotbänken zum Hof verlaufen im Grundriß schräg; offenbar wollen sie zwischen der Achse der Ostfront und dem mittelsten Pfeilerintervall des Hofes vermitteln.

Man sieht: der Architekt des großzügigen Neubaues von 1393 mußte sich mit einem vorhandenen Bau abfinden, dessen nordsüdliche Längenausdehnung durch die beiden Quermauern gegeben war.

Im Obergeschoß (Abb. 60) finden wie wieder dieselben beiden dicken Quermauern, welche den Ostflügel in ostwestlicher Richtung durchschneiden wie im Erdgeschoß. An der Hoffront treffen sie auf Intervalle zwischen den Pfeilern, deshalb sitzen in diesen beiden Achsen keine Fenster.

An der Ostwand des Obergeschosses muß die nördliche der beiden Quermauern abgeschrägt werden, damit die Wand nicht gegen die Fensteröffnung läuft.

[51]
[52]
[53]

Der Keller (Abb. 61) zeigt dasselbe Bild wie das Erdgeschoß. Auch hier teilen die beiden dicken ostwestlichen Querwände den Längsbau des Ostflügels und stecken als ältere Bauteile in dem sonst einheitlichen Grundriß, der also im wesentlichen dem Neubau von 1393 angehört. Die innere Einteilung geschieht nämlich hier durch flache, auf mächtigen Granitrundpfeilern ruhende Gurtbogen. Bei der Einteilung der Rundpfeiler ist von Anfang an auf die eingebauten Kellertreppen Rücksicht genommen. Da diese Kellertreppen einwandfrei dem großen Neubau von 1393 zuzurechnen sind, ist der Schluß erlaubt, daß auch die Rundpfeiler und die auf ihnen ruhenden Bogen dieser Bauperiode angehören.

Im Westflügel fehlen auf den ersten Blick Anhaltspunkte, die auf das Vorhandensein älterer Bauten schließen lassen, im Erdgeschoß (Abb. 59) völlig. Vor allem ist im Gegensatz zum Ostflügel der Westosteingang zum Hof planmäßig in den Grundriß eingegliedert. Auch die Waage ist in die Pfeilerteilung der äußeren Wände eingegliedert und erscheint nicht als ein älterer Bauteil, der in dem Neubau steckt, sondern einheitlich mit ihm entworfen. Die Widerlagspunkte der Gewölbeanfänge decken sich durchweg mit den Pfeilern der Außenfassade.

Trotzdem scheint auch der Westbau den Rest eines älteren Baues zu enthalten - nämlich den gesamten Mauerzug der westlichen Hofwand.

Betrachten wir den gesamten Grundriß des Obergeschosses und die Nord- und Südfassade, so machen wir folgende Wahrnehmungen:

Überall da, wo die verlängerten Längswände des Hofes, sowohl die östliche als auch die westliche, auf die Nord- bzw. Südfront stoßen, d.h. im jeweils fünften Pfeilerintervall von den Gebäudeecken dieser Fronten aus gemessen, begegnen wir einer fensterlosen Achse - weil hier nämlich diese beiden Längswände auf die Außenmauern stoßen. Diese Zusammenschlüsse erforderten deshalb eine besondere Untersuchung, die allerdings nur an der Südfront vorgenommen werden konnte, deren Erörterung im Rahmen dieses Aufsatzes jedoch zu weitläufig wäre.

Immerhin soll schon jetzt gesagt werden, daß aus der Tatsache der fensterlosen Achsen der Süd- und Nordfront geschlossen werden darf, dass es sich bei diesen Längswänden doch wohl um Mauerzüge eines älteren Baues handelt, die beim großen Neubau im Jahre 1393 beibehalten worden sind. Wie weit sie in ihrer Substanz noch einem älteren Bau angehören, müsste durch weitere Untersuchungen im einzelnen geklärt werden.

[54] Es könnte sein, dass auch im Keller des Westflügels noch Querwände älterer Bauten stecken, da die Querwände des Kellers unter dem Westdurchgang des Erdgeschosses keinen Bezug zu diesem Durchgang haben, der doch im Erdgeschoß so planvoll eingegliedert ist. Aber es kann auch sein, daß für die Anlage der Kellerräume beim Neubau des Westflügels 1393 ein so ins einzelne gehendes Bauprogramm vorlag, dass sich schon aus dem Bedürfnis nach Kellern bestimmter Größe die Unregelmäßigkeiten erklären lassen.

Nord- und Südflügel scheinen keine älteren Reste zu enthalten. Nur scheint der die Südfront des Turmes fortsetzende Mauerzug im Kellergeschoß die Lage einer älteren Mauer aufzunehmen, dafür spricht die enge Einteilung der an den Turm westlich anschließenden Keller, die zwar eine planmäßige Untermauerung der zum Neubau 1393 gehörigen Südtreppe darstellt, allem Anschein nach aber doch auf einen in der Südflucht des Rathausturmes verlaufenden älteren Mauerzug Rücksicht nimmt.

Diese Vermutung wird durch die Untersuchung des Turmes (Abb.62, Figur 1, 2, 3 und 4) bestätigt, der bis in die Höhe des 2, Obergeschosses an seiner Südwestecke den Ansatz einer seine südliche Flucht nach Westen fortsetzenden, beim Neubau 1393 abgebrochenen Wand zeigt. Wir beginnen mit der Betrachtung im Dachgeschoß des Südflügels mit der Wand, die schon Steinbrecht in seinem "Thorn im Mittelalter" veröffentlicht hat, Sie ist schon deshalb hochinteressant, weil sich an dieser durch das Dach geschützten Stelle die alte Originalbehandlung der mit Maßwerkmustern ausgemalten Blendnischen festgehalten hat (Abb. 63).

Die bei der neuerlichen Untersuchung vorgenommene genaue Aufmessung hat ergeben, daß die westliche Kante der Maßwerkblenden noch über de Westflucht des Turmes hinausreicht, woraus wohl geschlossen werden darf, daß sich die Blendenreihe einst nach Westen weiter fortgesetzt hat. Wichtig ist, dass die heute und schon seit etwa 1400 unterm Dach liegenden Spitzbogenblenden ihre Einteilung in vier große und eine kleine Blende offenbar nicht vom Turm her erhalten, sondern von einer westlich die Südflucht des Turmes fortsetzende Fassade - anders ist das Herausragen der westlichsten der 4 Blenden über die Westflucht des Turmes und das unregelmäßige Aufhören dieser Blendengliederung an der Südostecke des Turmes nicht zu erklären.

Der Gedanke liegt nahe, dass diese Blendengliederung zu einer südlichen Schauwand gehört, welche die hinter ihr liegenden Dächer aufgenommen hat und welche bis in die Höhe der Dachfirste dieser Dächer hochgeführt war.

Die Frage, wie weit diese Schauwand nach Westen gereicht hat, d.h. wie lang also die Südfront dieses ältesten Rathauses gewesen ist, soll vorerst noch unbeantwortet bleiben.

Die Untersuchung der Nordostecke des Turmes ergab im Erdgeschoß folgendes Bild (Abb. 62, Fig. 4):

Nach Abschlagen des Putzes kam die Nordflucht des Turmes bis in eine Höhe von 2,26 m über dem Fußboden des Erdgeschosses zum Vorschein, dann band der Anfänger eines stichbogenartig ansetzenden Bogens in die Ostflucht des Turmes, diese nach Norden verlängernd, ein. Dieser Bogen war aber kurz nach Verlassen der Nordflucht des Turmes, samt der auf ihm aufsitzenden Mauer abgehauen.

[55] Im Obergeschoß wurde die Nordseite des Turmes freigelegt. Dabei zeigte sich folgendes (Abb. 62, Fig. 3):

Die im Obergeschoß an der Ostseite bereits festgestellte, auf dem Bogen aufsitzende Mauer ist auch im Obergeschoß - allerdings abgeschlagen - vorhanden. Sie ist zwei Steine stark. Ihre Krone liegt 2,65 m über dem Fußboden des ersten Obergeschosses. Nach Westen an diese Mauer anschließend ist das Mauerwerk bis in eine Höhe von 1,68 m nicht als glatt gemauert und gefugte Mauer erhalten wie darüber, sondern zeigt eine rauhe, auf Abbruch deutende Oberfläche; anscheinend stand hier die Flucht des Turmes weiter vor und ist dann später abgespitzt worden.

Die Westseite des Turmes (Abb. 62, Fig. 1) ist zur Zeit im Obergeschoß verputzt, so dass hier keine Untersuchungen möglich waren. Dagegen ist in dem Zwischengeschoß, das in der Höhe des Podestes der Südosttreppe liegt, das äußere Rohmauerwerk von dem schmalen Gang östlich des Treppenpodestes aus sichtbar. Es zeigt den Ansatz der oben erwähnten, 3 ½ Steine starken, abgebrochenen Südwand, an diese angelehnt den Abbruch eines Gewölbes, das sich in einem halben Stichbogen gegen diese Mauer anlehnte und das in die Westwand des Turmes einband. Dieses Gewölbe war übermauert. Auch die Übermauerung war abgebrochen. Eine Erklärung für diesen merkwürdigen Mauerbefund konnte ich nicht finden - vielleicht handelt es sich um die Untermauerung einer Treppe.

In dem Dachgeschoß zeigt sich unter dem Anschluß des heutigen, de, Wiederaufbau des 18. Jahrhunderts angehörenden Dachstuhls ein älterer, 1 m mit dem First tiefer sitzender Dachanschluß eines steileren Daches - ohne Zweifel der Anschluß des einheitlichen Neubaues von 1393, auf dessen Hauptgesims ein Stockwerk unter dem heutigen Hauptgesims die Anschlüsse der Dachflächen hinzielen.

Die Gestalt des Rathauses vor dem Neubau von 1393 (Abb. 64)

Der Turm stand nicht frei, sondern bildete die Ecke eines Gebäudes, das die Flucht des Turmes nach Westen und Norden fortsetzte. Die Südfront dieses Rathauses muß man sich als eine mit spitzbogigen [56] Blenden gegliederte Schauwand vorstellen, deren östlichste Felder sich am Turm unter dem Dach der späteren Rathauserweiterung erhalten haben.

Wo lag das westliche Ende dieser Schauwand? Aus der Analogie mit den großen hanseatischen Rathausbauten, namentlich Lübecks und Stralsunds, wissen wir, dass diese Rathäuser aus 2 parallel gerichteten, langgestreckten Giebelbauten bestanden, die durch einen Hof getrennt und durch einen schmalen Verbindungsbau hinter der Schauwand verbunden waren. Die ältere Schauwand des Lübecker Rathauses mit den prächtigen Maßwerkblenden stammt aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert, also aus derselben Zeit wie das alte Thorner Rathaus vor dem Neubau 1393.

Daß der Südflügel dieser Zeit sich nach Westen so weit ausgedehnt habe wie der spätere, heute erhaltene Tuchhallenflügel, möchte ich nicht annehmen, ich vermute vielmehr, dass die Ostwand des letzteren, also die Westwand des Hofes, die Westwand des ältesten Rathauses gebildet hat. Bei dieser Annahme käme man etwa auf die Grundrissverhältnisse des Lübecker Doppelbaues.

In dieser Annahme werde ich bestärkt durch folgende Beobachtung:

Durch den gesamten Grundriß von Erd- und Obergeschoß des einheitlichen Rathausbaues von 1393 läuft von Norden nach Süden eine vertikale Baufuge. Sie liegt im jeweils 7. Pfeilerintervall der Süd- und Nordseite und in jedem 3. Pfeilerintervall der nördlichen und südlichen Hoffront (von Osten gemessen, vgl. Obergeschoßgrundriß). Sie ist bestimmt durch einen Wechsel im Backsteinprofil der zweiten Schicht der Blenden (Abb. 62, Fig.5). Auf allen östlich dieser Baufuge liegenden Blenden befindet sich das reichere Profil 1, westlich davon das Profil 2.

[57] Diese den ganzen Bau durchschneidende Baufuge kann doch wohl nur so erklärt werden, dass zunächst der östliche Teil in die Höhe getrieben werden mute, weil man einen alten Westflügel zunächst stehen ließ, den man während des Umbaues noch benutzen wollte. So ergab sich der in Abb. 65 dargestellte Zustand, welcher den im Bau befindlichen Ostflügel des Neubaues von 1393 und dahinter das frühgotische Rathaus vom Ende des 13. Jahrhunderts darstellt. Da die Baufuge bis in die Nordfront durchläuft, dürfte der Schluß erlaubt sein, dass die älteste Nordflucht schon in der Höhe der jetzigen Nordflucht gestanden hat.

Die beiden dicken Querwände des Ostflügels wären in diesem Falle als innere Teilungswände aufzufassen - wenn man in ihnen nicht wegen der auf Seite 50 geschilderten Unregelmäßigkeiten den Rest einer noch älteren Bauperiode eines einzelstehenden Giebelhauses vermuten will. Ich halte diese letzten Reste eines ältesten Rathauses, nämlich dessen beide Giebelmauern vor uns.

Auf Grund der angeführten Überlegungen komme ich zu einer Rekonstruktion des Zustandes vor dem [58] großen Umbau, wie ich ihn in Abb. 64 dargestellt habe. Als gesichert kann dabei das Vorhandensein einer südlichen Schauwand gelten, fraglich bleibt die Ausdehnung des Baues nach Westen und Norden.

Die Gestalt des großen Rathausneubaues von 1393 (Abb. 66).

Die alte Erscheinung dieses an Einheitlichkeit und an Großzügigkeit in der Zusammenfassung des Bauprogramms einzigartigen Bauwerkes festzustellen ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil das Thorner Rathaus auf der Grenze steht zwischen der hochgotischen und der spätgotischen Fassung großer, vielräumiger Baukomplexe. Es ist die Zeit, in welcher an die Stelle der mehr oder weniger lockeren Nebeneinanderreihung von selbständigen Giebelbauten die Vereinigung der einzelnen Bauten unter einem Dach erfolgt. Es ist der Schritt von der Marienburg mit ihren Giebeln oberhalb der Dachtraufe zu der Lösung von Heilsberg, bei der ein einheitliches Walmdach das Kastell abdeckt. Bei den Klöstern sehen wir dieselbe Entwicklung. am Schluß des Mittelalters steht überall das einheitliche Walmdach, das mit durchlaufendem First den ganzen Baukomplex zusammenfaßt.

Darüber, dass das gesamte zweite Obergeschoß erst eine Zutat des großzügigen Umbaues von Anthony van Obbergen nach 1600 ist, kann kein Zweifel mehr bestehen. Steinbrecht neigte dazu, das 2. Obergeschoß noch dem Bau der Ordenszeit zuzuschreiben. Aber die urkundlichen und baugeschichtlichen Belege beweisen eindeutig, dass der Bau von 1393 nur zweigeschossig war. Uns interessieren hier die baugeschichtlichen Zeugnisse, die das Bauwerk selbst liefert:

1.

an der Ost- und Südfront sowie an der Ostwand des Hofes heben sich deutlich in den Pfeilerintervallen spitzbogige umrandete Flächen aus den dunkelroten Steinen der beiden unteren Geschosse von dem gelblicheren Backsteinmauerwerk des 2. Obergeschosses ab.

2.

Durch den gesamten Bau läuft etwa in Höhe der Decke des 1. Obergeschosses eine horizontale Baufuge, die kenntlich ist

 

a) am anderen, gelblichen Material,

 

b) am Aufhören der Profilsteine 1 in dem östlichen Bauteil.

Wie schon oben bemerkt (S. 56), hat sich der Anschluß des mittelalterlichen Daches an der Westwand des Turmes erhalten. Die Höhe des Dachfirstes ist damit gegeben.

So ergibt sich für die Rekonstruktion des Rathauses von 1393 die Gestalt, wie sie in Abb. 66 dargestellt ist. Fest steht dabei die Höhe der Bogenblenden und die Höhe des Dachfirstes Ob das Dach unmittelbar auf der Mauerkrone oder ob es hinter einem offenen Zinnenkranz aufgesessen hat, mag dahin gestellt sein. Ich habe die letzte Lösung aufgezeichnet (vgl. auch die Rekonstruktion in R. Heuers "Thorn") und habe dabei an die Zinnenkränze der Tuchhallen in Ypern und an die Danziger Marienkirche gedacht. Auch die Pfeilertürmchen auf den Ecken sind ja ein häufiges Motiv der Profanarchitektur Flanderns und der Ostseeländer.

Diesem mächtigen Einheitsbau ist eigentlich in der Profanarchitektur des Mittelalters fast nicht gleichzustellen. Mir ist wenigstens kein Bauwerk aus der Zeit um 1400 bekannt, das in einer großzügigen [59] Weise die Räume verschiedenster Größe unter einem Dach zusammengefaßt und so bewusst die Einheit durch die um den ganzen Baukörper herumgeführten Blendnischen herstellt.

Man sieht daraus, daß damals die Entwicklung der Architektur im Ordensland auf diesem Gebiet der des Westens vorausgeeilt war, wie es ja aus dem Zusammentreffen zweier kulturtragenden Mächte, des Ordensritters und des hanseatischen Kaufmanns, leicht erklärlich ist.

Ich möchte noch auf ein altes Bild hinweisen, das in der Gerichtslaube hängt (Abb. 67). Als ich dieses Bild sah, da durchfuhr mich der Gedanke: das kann nur die Ansicht des Thorner Rathauses vor 1600 sein. Das Bild zeigt anscheinend eine Schauwand, die wie das Rathaus mit Pfeilern gegliedert ist. Die Pfeiler laufen jedoch durch und begleiten die Zinnen und schließen mit diesen oben horizontal ab. Zwischen den Pfeilern sitzen, ähnlich wie an den Rathäusern in Lübeck und Stralsund, kreisrunde Windlöcher. Auch in manchen Einzelheiten der Fassade deckt sich die dargestellte Architektur mit der des Rathauses, z.B. in den horizontalen Gesimsstreifen unter den Fenstern, die auch einmal am Rathaus vorhanden waren und heute noch an Ausflickungen zu erkennen sind. Vor allem ist der erste starke Eindruck der eines einheitlichen mächtigen Gebäudes. So habe ich selbst dieses Bild für eine stark vereinfachte und stilisierte Darstellung der Nordseite des Rathauses gehalten und auf diesem Bild geschlossen, daß auch das Rathaus von 1393 auf der Nordseite eine Schauwand besessen habe. Ich konnte mir auch nicht denken, daß es in Thorn noch einen Profanbau von solchen Ausmaßen gegeben haben soll. Ich habe auch eine Rekonstruktion dieser Schauwand versucht, die durchaus möglich wäre.

Aber die mir erst nach Fertigstellung dieses Versuches zur Verfügung stehende Photographie dieses Bildes hat mich doch zur Überzeugung gebracht, daß mit diesem Bild nicht das Rathaus gemeint sein kann. Der Maler wollte vielmehr den Blick in eine Straße von Thorn darstellen. Das auf den ersten Blick so einheitliche Gebäude stellt in Wirklichkeit 3 Dreifensterhäuser dar, deren Hausfronten hochgezogen und oben mit einem horizontalen Zinnenkranz abgeschlossen sind, so allerdings, daß der obere Abschluß der Zinnen und Windlöcher einheitlich durchgeführt ist. Auch das Möllersche Zinsgroschenbild im Danziger Rathaus zeigt ja in seiner Darstellung der Danziger Langgasse ähnlich hochgeführte horizontale Häuserfassaden. Deutlich erkennt man die drei Haustüren, von denen jeweils rechts und links zwei hohe Dielenfenster sitzen. Das Gebäude steht auch nicht frei auf einem Platz, sondern ist in die Straßenwand eingebaut, die Budenreihen, die dem Hause vorgelegt sind, setzen sich an dem weißgeputzten, gerade noch sichtbaren Nachbarhaus fort.

[60] Wenn das Bild auch nicht das Rathaus darstellt, so ist es doch eine bisher nicht beachtete Darstellung Alt-Thorner Profanarchitektur des Mittelalters und soll deshalb, schon um andere Forscher vor Irrtum zu bewahren, hier gebracht werden.

Anton van Obbergen (Abb. 68 u. 69) bricht dann kurz nach 1600 die alten zweigeschossigen, spitzeren Bogenblenden bis zur Kämpferhöhe ab und errichtetet das zweite Obergeschoß. auf die 4 Ecken setzt er die noch heute in guten Wiederherstellungen erhaltenen, graziös gezeichneten Ecktürmchen; die Mitte jeder Front betont er durch einen Renaissancegiebel, ganz ähnlich wie es bei dem in der gleichen Zeit entstandenen Schloß in Aschaffenburg geschehen ist. Von diesen Giebeln sind drei in einer armseligen Verbau-ung des 18. Jahrhunderts auf uns gekommen, der vierte Giebel auf der Westseite ist üble neupreußische Postgotik.

Wenn einmal eine großzügige Instandsetzung des Thorner Rathauses in Angriff genommen werden sollte, so wird sie im wesentlichen als Wiederherstellung des Obbergenschen Planes durchzuführen sein. Dabei [61] wird die Frage der formalen Gestaltung der Mittelgiebel deshalb akut werden, weil die Westfront so, wie sie auf uns gekommen ist, nicht beibehalten werden kann. Sie ist im Grundriß durch eine Pulverexplosion von 1703 stark ausgebaucht und hängt so stark über, daß man sie durch vier Strebepfeile stützen mußte. Auf diesen Strebepfeilern wird man nie einen vernünftig aussehenden Giebel aufbauen können. Man wird daher diese ausgebogene Wand samt den vier Strebepfeilern abtragen und den heute darauf sitzenden, sehr unerfreulichen neugotischen Giebel abbrechen müssen, um auf der neu aufgebauten Wand den alten Mittelgiebel wieder aufzubau-en.

Diesen aber von vorneherein in der durch Umbau beeinträchtigten Form der drei anderen Giebel zu planen, wäre wohl unlogisch. Die Anhaltspunkte an alten Resten und an Zeichnungen genügen, um hier wieder einen zu den Ecktürmchen passenden Mittelgiebel zu entwerfen.

Heutiger Zustand des Baues; 1941! (Abb. 70).

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1) E. Steinbrecht, Thorn im Mittelalter, Julius Springer, Berlin 1885. - R. Heuer, Thorn, Deutscher Kunstverlag, Berlin 1931.

 

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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 18.11.2007