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Familienwappen Krüger

Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Von der Krise, die keine wurde

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

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Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kurzbiographie.

Wir in Hannover mußten uns in diesen Jahren sehr einschränken. Die finanziellen Belastungen, die sich aus dem Hausbau ergaben, wurden erst dann erträglicher, als Elisabeth ihren Lastenausgleichsanspruch als Miterbin des großelterlichen Hofes in Groß Zünder ausbezahlt bekam. Einen Teil dieses Betrages benötigten wir für einen Hausumbau. Trotz der ständigen Ebbe [381] in unserer Haushaltskasse lebten wir glücklich und zufrieden miteinander. Wir entschlossen uns sogar, auf einer gemeinsamen Reise nach Paris, der Stadt der Liebe, ein weiteres Kind zu zeugen.

Anette war acht Jahre alt, als Johann-Christian geboren wurde. Ich war zu der Zeit fest davon überzeugt, daß Elisabeth durch das vierte Kind umso fester an unsere Familie gefesselt wird. Die Ermahnungen meiner Mutter, ich solle bedenken, eine junge, hübsche Frau zu haben, deren Leben sich nicht im Windelwaschen, in der Kinderbetreuung und in der Hausarbeit erschöpfe, überhörte ich. Ebenso ihre Hinweise auf die Unberechenbarkeit der weiblichen Psyche. Elisabeths Selbstverwirklichung sei mein ureigenstes Anliegen, da vertraue sie meinem Rat. Warum sollte sich meine Frau in Abenteuer stürzen, wo sie doch ein schönes, bequemes Haus, vier gesunde, lebhafte, intelligente Kinder und einen Mann habe, der seine beruflichen Pflichten sehr ernst nehme. Sie habe sich doch bisher, entgegnete ich meiner Mutter, mit aufopferungsvoller Liebe für das Wohl und Gedeihen unserer schnell wachsenden Familie eingesetzt. Es sei ihre Pflicht und Schuldigkeit, in dem Leben, das ich so umfassend wie möglich geplant habe, glücklich zu sein. Voraussetzung sei natürlich, daß Elisabeth ebenso wie ich die Erziehung unserer Kinder zu tüchtigen, pflichtbewußten Menschen als ihre Lebensaufgabe ansehe. Das habe sie mir vor der Eheschließung beteuert. Das gegebene Wort werde sie auch halten. Gewiß, sagte ich zu meiner Mutter, ihre Gesundheit und mädchenhafte Schönheit haben unter der ständigen Überforderung zu leiden begonnen. Sie sei aber körperlich sehr gesund und werde die gelegentlichen Probleme, die sie mit ihren Nerven habe, in gemeinsamen Urlauben und mit ärztlicher Hilfe überwinden.

Die Ereignisse, die ich zusammenfasse, verteilen sich über mehrere Jahre. Elisabeths Fleiß und Häuslichkeit waren für mich selbstverständlich geworden. Der Haushalt lief geräuschlos wie auf Gummirädern. Die Kinder wuchsen heran. Das Soziologengeschwätz jener Zeit von der vaterlosen Ge[382]sellschaft hielt ich für übertrieben. Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß schaffen und streben, war meine Maxime. Das tat ich, da konnte man mir keinen Vorwurf machen. In meine Sprache schlichen sich Begriffe ein wie Optimierung des Gewinnes, Planung, Spezialisierung, Arbeitsteilung. Mein Tonfall war ungeduldig und rauh. Sprüche wie beispielsweise 'Wer nicht mitkommt, der bleibt liegen', 'Wettbewerb hebt den Wohlstand', 'Stillstand ist Rückschritt' aus meinen Reden in Bauernversammlungen drangen in die Umgangssprache ein. Ich merkte nicht, daß bei der ausschließlichen Anwendung der Vernunft und dem ewigen logischen Schlußfolgern, das mein Beruf mir abverlangte, mein Herz zu fühlen verlernte.

Das, was für Elisabeth wichtig war, Geselligkeit, modische Kleider, Schmuck, Antiquitäten, Tanz, hielt ich für überflüssige Nebensächlichkeiten. Sie wollte von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht nur die pflichtbewußte Erfüllungsgehilfin meiner rationalen Lebensplanung sein, sondern eine glanzvollere Rolle in der Gesellschaft spielen. Soweit ihre häuslichen Pflichten es erlaubten, die sie weiterhin erfüllte, suchte sie nach Möglichkeiten, dem eintönigen Leben mehr Abwechslung und Farbe zu geben.

Elisabeth verstand es, Nebensächlichkeiten mit ihren Mitteln durchzusetzen. Sie empfing immer häufiger Hellmut, der bei uns übernachtete und es geschickt verstand, seine Abreise bis nach meinem Dienstbeginn hinauszuzögern. Eines Tages merkte ich, daß sie in ihren emanzipatorischen Ansichten durch eine gewisse Lektüre bestärkt wurde. Ich hatte damals keine Zeit, die Bücher der französischen, britischen oder gar amerikanischen Frauenrechtlerinnen zu lesen, die auf Elisabeths Nachtisch lagen. Mir fehlte auch das Interesse an einer Literatur, die nichts anderes bewirkt, als Frauen unzufrieden zu machen, den Glauben der Väter, die guten Sitten, unsere Moral und die bewährte, biologisch bedingte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau zu untergraben.

In der Familienchronik, die uns unsere Kinder geschenkt haben, steht für das Jahr achtundsechzig, daß ich gerne "zu [383] Diskussionsrunden einlade und Reden an die Zuhörer" halte. An einem dieser Herrenabende war ein großer Freundeskreis versammelt. Hellmut war aus Schöppenstedt gekommen, Alvo v. Alvensleben aus Duderstadt. Elisabeth blieb den ganzen Abend demonstrativ bei uns. Die Gespräche drehten sich um politische und literarische Themen. Der Wein schmeckte gut, die Gulaschsuppe, die Elisabeth uns um Mitternacht servierte, auch. Alvo hatte den weitesten Heimweg. Er war mit seinem neuen BMW gekommen. Da Straßenglätte zu befürchten war, wollte er als erster aufbrechen. Elisabeth fuhr leidenschaftlich gerne gute und schnelle Autos. Unser Ford Taunus war im Vergleich zu Alvos Schlitten eine lahme Ente. Elisabeth fragte ihn mit einem gewinnenden Lächeln, ob sie eine Probefahrt auf der nahen Autobahn machen könne. Sie entwickelte ihren bestrickenden Charme, dem Alvo nicht widerstand. Nach anfänglichem Zögern, dem sichtlichen Ausdruck dafür, wie besorgt er um sein neues Auto bei der frostglatten Straße war, willigte er ein. Elisabeth setzte sich ans Steuer, Alvo daneben.

Hellmut hatte sich zu der Zeit schon damit abgefunden, daß er nicht der einzige Verehrer von Elisabeth war. Als der BMW mit Vollgas gestartet und am Ende der Neuen Wietze nach rechts abgebogen war, sagte er zu mir: "Wer weiß, ob wir die beiden jemals wiedersehen." Seine Stimme klang spöttisch und resigniert zugleich. Nach zwanzig Minuten kam Elisabeth in den Schoß unserer Familie zurück. Alvo fuhr allein nach Duderstadt.

Nach dieser schwierigsten Phase unserer Ehe fragte ich Elisabeth, ob sie das, was wir einige Jahre vor und nach der Geburt von Christian durchlebt hatten, als Ehekrise ansehen würde.

"Ehekrise ist ein zu großes Wort", entgegnete sie. "Wenn man in Problemen steckt, scheint alles viel schlimmer zu sein als jetzt einige Jahre danach. Meine Vorstellungen von der Ehe bestanden darin, in inniger Gemeinschaft zu leben. Du vertratst die Meinung, ein Ehepartner solle das Geld verdienen und der andere für Haus und Kinder verant[384]wortlich sein. Soweit sollte meiner Meinung nach die Arbeitsteilung nicht gehen. Eine Familie ist schließlich kein Wirtschaftsunternehmen, in dem eine konsequente Spezialisierung der Arbeitsvorgänge notwendig ist. Die Eltern sollten sich gemeinsam um die Kinder kümmern. So kannte ich es von Zuhause. Mein Vater hatte sich sehr intensiv mit seinen Kindern beschäftigt, besonders nach dem Tode meiner Mutter. Ich fühlte mich in der Zeit, die Du ansprichst, oft allein gelassen. Ja, ich hatte die Vorstellung, die Ehe ist eine innige Beziehung, in der die beiden Partner möglichst viel gemeinsam tun.

Du hattest Dich zeitweise durch mich und die Kinder sehr stark in Deinem Freiheitsraum eingeengt gefühlt und wolltest von Deiner Familie möglichst wenig behelligt werden. Du wolltest Deine dienstlichen Aufgaben pflichtbewußt erfüllen und die Kraft dazu in Deiner Familie schöpfen. Du wolltest auch die Freiheit haben, Dich in Deiner Berufstätigkeit und darüber hinaus zu verwirklichen. Auch ich hatte das gleiche Bedürfnis, aber ich war dafür körperlich und nervlich zu erschöpft."

Du hast Dich daraufhin in Deinem Gefühl von mir mehr distanziert?

Elisabeth antwortete zögernd: "Wenn sich das Leben eines Ehepartners im Hause und das andere ganz woanders abspielt, ist es eine ganz natürliche Konsequenz, daß sich auch die Gefühle zueinander wandeln. Ich will nichts dazu sagen, ob ich mehr Liebe und Zuwendung von Dir erwartet hatte. Jeder kann nur soviel Liebe geben, wie er hat. Damit muß sich der Ehepartner zufriedengeben. Wir hatten lange Zeit kaum gesellschaftliche Kontakte. Manchmal dachte ich, daß mein Leben mit unseren Kindern gelaufen sei. Erst nach Deinem Klassentreffen merkte ich, daß ich noch jung bin und auf Männer wirke. Das gehört aber nicht in eine Familienchronik. In ihr solltest Du nur die Ereignisse erzählen. Die Gefühle gehen niemanden etwas an. Ich bin nicht Gegenstand Deiner literarischen Ehrgeize. Da Du aber auf diese Phase unserer Ehe in Deinem Buch nicht verzichten willst, kann [385] ich nur sagen, daß Hellmut nicht mein Hausfreund war, was Du hören möchtest, sondern ein mir sympathischer, gut erzogener, stets hilfsbereiter Freund des Hauses. Er ist ein Mann, der bei Frauen ein gewisses Mitleid erregt, da er vom Schicksal nicht sehr liebevoll behandelt worden ist. Die Kriegsverwundung, der Verlust des elterlichen Gutes, die Ehescheidung, sein schwerer Beruf, alles dies trägt dazu bei. Ich hatte immer das Gefühl, ihn liebevoll betreuen zu müssen, wenn er bei uns zu Besuch war. Man kann sich gut mit ihm unterhalten, denn er hat einen gesellschaftlichen Schliff, wie man ihn leider selten bei den Männern findet. Er hat auch stets auf meine psychische Überlastung taktvoll Rücksicht genommen, während Du über mein agressives Verhalten oft verärgert warst.

Du hattest mich bis dahin als Dein Geschöpf, als das Ergebnis Deiner rationalen Planung, als Deinen Besitz gesehen. Du glaubtest, meinen Charakter bis in den letzten Winkel durchschaut zu haben. Der Gedanke, ich könnte mich als Kugel in Deinem Glasperlenspiel wiederfinden, ließ mich erschauern. Ich wollte kein Faktor in Deinem Kalkül sein. Du verachtetest alles, was Dir nichts nützte."

Elisabeth zögerte. Sie wollte mich nicht nachträglich verletzen. "Aber ich muß es begründen", fuhr sie lebhafter fort, "warum ich, um mit Deinen Worten zu sprechen, dem Widerspruchsgeist verfallen war, zu dem ich mich voll und ganz bekenne. Als wir später in unserem Hause selbst Feste veranstalteten und häufig Einladungen erhielten, hatte ich mit einer Freundin verabredet, unseren Marktwert als Frauen zu testen. Das war eine herrliche Zeit. Wir nahmen über einige Jahre an einem Tanzkursus für Ehepaare teil. Als wir es finanziell ermöglichen konnten, machten wir gemeinsame Urlaubsreisen, zuerst an die Ostsee und später an den Bodensee. Langsam wurden auch unsere drei ältesten Kinder größer, und ich gewann dadurch einen größeren Freiheitsraum für mich persönlich. Als Anette acht Jahre alt war, wurde unser jüngster Sohn geboren. Ich hatte zwar Bedenken, ob ich mit achtunddreißig Jahren die Belastungen der Geburt und des [386] Windelalters unseres Wunschkindes durchstehen würde. Etwas beunruhigte mich auch der Gedanke, unser Christian müsse einmal als Einzelkind aufwachsen. Wir hatten kein Personal außer einer Haushaltshilfe für einen halben oder auch einen ganzen Tag in der Woche. So machte mir, bis Christian zwei oder drei Jahre alt geworden war, wieder meine nervliche Labilität zu schaffen.

In dieser Zeit war ich für jede Aufmerksamkeit, für jedes Kompliment, für jedes Lächeln dankbar. Welche Frau würde nicht genauso empfinden? Wenn Du eifersüchtig wurdest oder wenn ich einen größeren Marktwert hatte als meine Konkurrentinnen, dann stärkte das mein Selbstbewußtsein. Obwohl ich diese Bedürfnisse heute fast lächerlich finde, lehne ich es ab, wenn Ehepaare sich auf Festen gegenseitig beobachten. Ich verstehe solche Frauen nicht, die ihrem Ehemann drohen, eine Tanzveranstaltung zu verlassen, wenn er noch einmal mit einer bestimmten Frau tanze. Das ist vorgefallen, ich will keine Namen nennen. Umgekehrt verurteile ich es genauso, wenn Du mich auf Festen nicht aus den Augen ließt und mir womöglich nachträglich Vorhaltungen wegen meines Verhaltens machtest. Entweder wir feiern Feste und lassen uns so feiern, wie wir es wollen, oder wir lassen es bleiben. Unser schönstes Faschingsfest stand unter dem Motto 'Tanz in der Kommune'. Wir hatten einer Schaufensterpuppe denselben Frack angezogen, den Du Dir von Edith zu unserer Hochzeit ausgeliehen hattest, und ihr ein Schild mit der Aufschrift 'Der letzte Bürger' um den Hals gehängt. Wir waren alle sehr ausgelassen. Che Guevara, Fidel Castro, Lenin und sonstige Revolutionäre tanzten dem braven Bürger auf der Nase herum. Das Gegenteil im Motto und in der Kostümierung war das Fest in dem Saal des Bauernhauses unserer Freunde in Meine. 'Wir wollen unseren Kaiser Wilhelm wieder haben' war die Losung der Nacht. Die Damen erschienen in weißen, langen Roben, die um die Jahrhundertwende von ihren Großmüttern, und die Herren in bunten Uniformen, die von ihren Großvätern getragen worden waren. Wir waren überrascht, wieviele Requisiten aus den alten Truhen herausgekramt wor[387]den waren, die zur Verschönerung des farbenfrohen Festes beitrugen. Leider mußte ich mich schon früh zurückziehen, da ich mehr getrunken hatte, als ich vertragen konnte. Die Tröster lösten sich an meinem Bett ab. Ich hatte sie nicht gerufen. Zu alledem bekenne ich mich.

Wir ironisierten die radikale politische Rechte und Linke, warfen sie in einen Topf und machten uns über sie lustig. Ich will hier nicht alle schönen Feste aufzählen, die wir gemeinsam erlebten. Glanzvoll waren auch der Fasching in unserem Hause unter dem Motto 'Walpurgisnacht' und die Sommerfeste, die wir in unserem Garten und auf der Terrasse feierten.

Unsere Ehekrise, mag sein, daß wir diese Phase so bezeichnen können, war überwunden, als Du einsahst, daß ich eine selbständige, selbstbewußte Frau bin, die ihr Eigenleben führen will. Das hatte ich Dir schon vor unserer Ehe in Göttingen gesagt. Erinnerst Du Dich noch daran?"

Ja, ich erinnere mich, wie sollte ich das Gespräch auf dem Friedhof an der Weender Straße jemals vergessen?


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004