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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Herausforderung und Antwort

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kurzbiographie.

Wir lebten in der Zeit des Wirtschaftswunders. Ludwig Erhard hatte sein Wirtschaftsprogramm gegen den erbitterten Widerstand der SPD und der Gewerkschaften in praktische Politik umgesetzt. Er mußte auch heiße Kämpfe gegen die Industrieverbände bestehen, als er die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten großer Unternehmen, das Betriebsverfassungsge[375]setz und die Aufhebung der kollektiven Preisbindung durch die Monopole durchsetzte. Als 1955 in der Hochkonjunktur die Preise wieder kletterten, wandte sich Erhard mit leidenschaftlichen Appellen an die Öffentlichkeit: "Wir dürfen nicht den Maßstab für das, was möglich ist, verlieren; wir dürfen nicht gefährden, was wir zusammen erreicht haben. Maßhalten muß das Gebot der Stunde sein."

Wir bedauerten Erhards Zerwürfnis mit Konrad Adenauer, der seinen erfolgreichen, mutigen und redlichen Wirtschaftsminister nicht für fähig hielt, sein Nachfolger zu werden. Als Erhard sich gegen Adenauer und die Industrieverbände schließlich mit der Aufwertung der Mark, mit Zollsenkungen zur Verbilligung der Einfuhren durchsetzte und als Folge sich die Preise stabilisierten, entschloß sich die CDU 1963, Erhard zum Kanzler zu machen. Der populäre Wirtschaftsminister scheiterte in dieser Position, weil ihm nach Golo Mann "die Portion Ruchlosigkeit fehlte, die ein Staatsmann haben muß".

Wir fünf Geschwister empfanden mit unseren Familien den schnell steigenden Wohlstand als Herausforderung. Wir wollten mithalten, gleichgültig, ob wir Angestellte wie Ursula, Beamte wie ich oder Unternehmer wie Werner, Hans-Joachim und Edith waren. Im Landmaschinenmarkt war die erste Investitionswelle abgeebbt. Hans-Joachim wollte ebenso wie seine Nachbarn, Freunde und Verwandte über steigende Einkünfte verfügen. Ursula, seine Frau, die er stets vergötterte, hatte nie ein realistisches Verhältnis zum Geld. Sie stellte Ansprüche, die Hans-Joachim als Partner seines Bruders nicht erfüllen konnte.

Die stets vorhanden gewesenen Spannungen zwischen Werner und seinem Bruder verschärften sich. Das blieb der Großfamilie nicht verborgen. Meine Mutter reiste nach Goddelau, sprach zunächst mit Werner und Ilse, ging dann einige Straßen weiter und redete dort mit Hans-Joachim und Ursula ein offenes Wort. Ihre Appelle an den Familiensinn, an unsere Tradition und unsere Werte trugen keine Früchte. Für beide Brüder hatte die Zusammenarbeit ihren Sinn verloren. Wer[376]ner sagte, er habe Hans-Joachim nach dem Kriege zu einer angemessenen Existenz verholfen. Wenn ihm jetzt die Einkünfte nicht mehr genügten, müsse er sich auf eigene Füße stellen. Er könne nicht lange Auslandsreisen und Geschäfte auf eigene Rechnung machen. Das lasse sich nicht mit dem Firmeninteresse in Einklang bringen. Der Trennungsstrich wurde gezogen. Werner zahlte die Geschäftsanteile seinem Bruder aus. In Partnerschaft mit Ursula baute Hans-Joachim eine eigene Großhandelsfirma für Landmaschinen auf. Es wurde im Familienkreis nie darüber gesprochen, ob meine beiden Brüder sich gegenseitig Konkurrenz gemacht haben. Ich glaube nicht, denn Hans-Joachim vertrat französische Landmaschinenfabriken aus dem Elsaß, mit denen Werner keinen Kontakt hatte, und belieferte Landmaschinenhändler und Landwirte in Rheinland-Pfalz, weitab von dem Geschäftsbereich der Firma Gebrüder Krüger.

Es war im Jahre vierundsechzig, als Hans-Joachim eine drohende Zahlungsunfähigkeit der Firma befürchtete. Werner war ernsthaft erkrankt und konnte sich in dieser Zeit nicht mit voller Energie für ihr gemeinsames Unternehmen einsetzen. Ich erinnere mich an einen Besuch bei Werner und Ilse. Mein Bruder, der stets optimistisch war, machte einen niedergeschlagenen Eindruck und sah alles grau in grau. Der Landmaschinenmarkt sei kaputt, sagte er und verglich die bis dahin ständig mit hohen Zuwachsraten gestiegenen Umsätze mit der gegenwärtigen Entwicklung, deren Daten nach unten wiesen. Die erste große Mechanisierungswelle der Landwirtschaft sei abgeflaut. Er habe die Mentalität der Landwirte ausgenutzt, die einen riesigen Nachholbedarf hatten. Werner erzählte, es sei oft vorgekommen, daß er einem Bauern in einem Dorf einen Schlepper verkauft habe. Kurz darauf meldeten sich die Nachbarn, die einen etwas größeren Schlepper kaufen wollten. Die gleichen Geschäfte habe er später mit Mähdreschern gemacht. Meinen Einwand, daß es für einen Landwirt völlig unökonomisch sei, auf zehn oder zwölf Hektar Getreide einen Mähdrescher einzusetzen, ließ er nicht gelten. Der Mähdrescherbesitzer würde sich schon Arbeit [377] bei seinen Nachbarn suchen. Im übrigen sei das nicht sein Problem.

Wir saßen auf zwei Stühlen, auf denen es keine Verständigungsmöglichkeit gab. Ich dachte an den Inhalt meiner Fachartikel und Vorträge, in denen ich die Landwirte vor unwirtschaftlichen Maschinenkäufen warnte und sie zur zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit in Maschinenringen und anderen Formen aufrief. Werner hatte seine Geschäfte im Sinn. Wenn er sich so verhalten würde, sagte er, wie ich es fordere, würde die Konkurrenz die Schlepper, Mähdrescher, Melkmaschinen verkaufen. Ich versuchte, meinen Standpunkt zu verteidigen, und sagte, die Mechanisierung führe zum Ruin vieler kleinbäuerlicher Betriebe, wenn die Einsatzflächen und die Maschinenkapazitäten nicht übereinstimmen. Meine Argumente prallten an Werners eiskaltem Unternehmerstandpunkt ab. Er entgegnete, daß in unserer Marktwirtschaft der Wettbewerb sehr hart geworden sei. Im übrigen könne er Herrn Lange, seinem Vertreter, der auf Provisionsbasis arbeite, nicht derartige Richtlinien geben, wie sie mir offensichtlich vorschwebten. Er sei Maschinenhändler und kein Berater.

Als Werner seine langwierige Erkrankung überstanden hatte, verwirklichte er mit neuer Energie zwei lang gehegte Pläne. Sie sollten sein Unternehmen von der schwankenden Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft unabhängig machen. Zuerst baute er auf seinem Betriebsgelände eine Tankstelle, eine Autowerkstatt und eine Wohnung für den Pächter dieses neuen Zweigunternehmens. Jeder Bundesbürger sollte ein Auto kaufen. Viele stiegen vom Volkswagen auf das Mittelklasseauto um. Werner hatte sich mit Fingerspitzengefühl für die wirtschaftliche Entwicklung seinen Anteil an der Konjunktur der Autoindustrie für seine Kasse gesichert.

Der zweite Plan war die Aufnahme einer gewerblichen Fertigung. In dem Haus, in dem wir Utes Taufe gefeiert hatten, wohnte nach dem Krieg ein Unternehmer namens Hans Nold, der im Nachbardorf eine Pumpenfabrik betrieb. Er bestellte eines Tages Werner zu sich in sein Werk und machte ihm den [378] Vorschlag, er möge die Produktion von Filterrohren aufnehmen. Diese Teile der Pumpenanlagen, die er herstelle, solle er ihm zuliefern. Er könne Werner die Abnahme einer hohen Stückzahl garantieren, weil er große Aufträge aus der Bundesrepublik und aus dem Ausland habe. Werner war mit Hans Nold seit der Nachkriegszeit befreundet. Die Zulieferung in einem Volumen von jährlich einer halben Million Mark rechtfertigte die Anschaffung einer Eisenpresse. Er kaufte eine gebrauchte Maschine und rüstete sie mit den passenden Schneid- und Preßwerkzeugen um. Die Fertigung lief an und war über viele Jahre hinweg das dritte Bein von Werners Unternehmen.

Die Antwort, die mein Bruder auf den Rückgang des Landmaschinengeschäftes gefunden hatte, erforderte während der Umstellungsphase erhebliche Investitionen. Er mußte sie weitgehend mit Krediten finanzieren.

Es ist der 4. Juni 1965. Werner und Ilse hatten zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter Karin mit Tilo Boettiger und zu ihrer eigenen Silberhochzeit eingeladen. Das größte Fest unserer Familie nach dem Kriege wurde glanzvoll im Schloß Kranichstein gefeiert. An der Festtafel nahmen etwa fünfzig Personen Platz. Als Ehrengäste wurden von Werner begrüßt: Ilses Onkel Waldemar Kraft, das Mitglied im Kabinett Adenauer, und Hans Nold mit seiner Frau, die neuen Geschäftspartner der Firma Gebrüder Krüger. Anwesend waren außerdem die Familie Boettiger, die beiden Großmütter der Braut und die Kinder meiner vier Geschwister mit deren Freunden und Freundinnen.

Wie bei solchen Anlässen üblich, wurden Reden gehalten. An eine von ihnen erinnere ich mich besonders gut. Waldemar Kraft, der ehemalige Vorsitzende des "Bundes der Heimatvertriebenen und Entrechteten" sagte, es sei überraschend gut gelungen, die ostdeutschen Volksstämme im Westen des Vaterlandes zu integrieren. Sichtbarer Ausdruck dafür sei die Heirat von Karin, der gebürtigen Thornerin, mit Tilo Boettiger, dem hessischen Kaufmann. Schranken zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, die nach dem Kriege bestanden haben, [379] gebe es nicht mehr. Er habe deswegen seinen Parteifreunden empfohlen, in die CDU Konrad Adenauers einzutreten, ebenso wie er es selber getan habe. Wann immer die Einheit der Nation auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt werde, die deutsche Frage sei nur unter einem europäischen Dach zu lösen. Es gab wohl niemanden in der Hochzeitsgesellschaft, dessen Ansichten sich zu der Zeit nicht mit denen von Waldemar Kraft deckten. Ich schließe in diese Aussage nicht nur meine Mutter und meine Geschwister mit ein, sondern auch die zahlreich anwesende junge Generation der Familie.

Nach dem Festessen versammelte sich die Hochzeitsgesellschaft zum Fototermin im Schloßpark. Das damals aufgenommene Bild liegt vor mir. In der Mitte sitzen die beiden Hochzeitspaare, daneben die Eltern des Bräutigams. Über das gesamte Foto verteilt sehe ich meine Nichten und Neffen. Sie sind dabei, sich durch höhere Schulbildung oder Studium beruflich für steigende Anforderungen einer dynamischen Volkswirtschaft zu qualifizieren. Sie empfinden deren hohe Wachstumsraten als Herausforderung an ihre wirtschaftlich-technische Ausbildung und an ihre Leistungsbereitschaft.

Karin in ihrem langen, weißen Brautkleid mit Kranz und Schleier hatte ebenso wie ihre jüngere Schwester Astrid die Eleonorenschule in Darmstadt mit der Mittleren Reife verlassen und sich anschließend zur elektrotechnischen Assistentin bei der AEG in Frankfurt ausgebildet. Später übernahm sie zunächst die Tankstelle, dann die gesamte Firma ihres Vaters.

Neben Astrid steht ihr damaliger Freund und späterer Ehemann Hans-Joachim Stipp. Meine Nichte arbeitete nach dem Gymnasium und einer mehrjährigen Ausbildung in einem Reisebüro. Neben ihr steht Volker, der älteste Sohn von Hans-Joachim und Ursula. Diesmal hatte er keine seiner zahlreichen, oft wechselnden Freundinnen mitgebracht. Das Abitur hatte er bereits gemacht, studierte später ein Semester Betriebswirtschaft in Frankfurt, verpflichtete sich zu einer vierjährigen Dienstzeit in der Bundeswehr und brachte es bis zum [380] Oberleutnant. Danach setzte er sein Studium an der Universität Frankfurt fort. Es hielt ihn aber nur ein oder zwei Semester in den Hörsälen fest. Im Jahre achtundsechzig packte ihn das Demonstrationsfieber, das von Frankfurt aus die Studenten vieler westeuropäischer Universitäten ergriff. Nach ruhelosen, von Fernweh erfüllten Jahren heiratete er, ließ sich scheiden, setzte das Studium fort und bestand schließlich das volkswirtschaftliche Diplomexamen. Sein Bruder Dietger steht der Körpergröße wegen ebenso wie Volker in der hinteren Reihe. Dietger studierte zielstrebig, ohne große Umwege zu gehen, zwei technische Fächer, machte planmäßig das Ingenieurexamen, wollte anschließend sein Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge aufbessern und belegte an der Universität Dortmund Volks- und Betriebswirtschaft. Ohne ein Examen in diesem Fach zu machen, übernahm Dietger eine regionale Organisation der Investmentgesellschaft IOS. Seitdem ist er ein außerordentlich erfolgreicher Anlageberater. Weiter nach rechts steht Doris und dahinter ihr Freund Ingo Leupold. Auch diese Nichte war in Darmstadt zur Eleonorenschule gegangen und hatte dort das Abitur gemacht. Sie studierte an der Pädagogischen Hochschule mit dem Berufsziel, Lehrerin an der Grundschule zu werden. Danach ging sie in den Hessischen Schuldienst. Doris heiratete später den Diplomchemiker Ingo Leupold, nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen, promoviert und bei den Höchst-Werken eine Stellung gefunden hatte. Der Leser wird später meinen Neffen Volker, Dietger, Rüdiger und Horst und meinen Nichten Sybille, Renate wieder begegnen. Auf dem Hochzeitsfoto kann ich einige von ihnen nicht finden. Vielleicht sind sie nicht dabei gewesen.


 
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© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004