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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Werner und Hans-Joachim erzählen Kriegserlebnisse

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

"Als der Zweite Weltkrieg begann, war ich polnischer Soldat. Vor Warschau geriet ich in Gefangenschaft." Wie sich das abgespielt habe, wollte ich von Werner wissen. "Ich lag", erzählte er, als ich ihn einmal in Goddelau besucht hatte, "auf einem Felde in Deckung, als ein deutscher Sturmangriff begann. Plötzlich war ich von mehreren Soldaten umringt, die ‚Hände hoch‘ riefen. Ich hob die Hände und gab mich als Deutscher zu erkennen. ‚Und was hast Du da?' fragte mich einer von ihnen und tippte mit dem Bajonett auf eine Patronentasche. ‚Zigaretten sind darin.', antwortete ich, denn ich war unbewaffnet und hatte auch keine Munition bei mir. Wie es sich dann herausstellte, war ich bei einer Einheit der Leibstandarte Adolf Hitler in Gefangenschaft geraten. Nachdem ich einige Tage lang Deutsche, die polnische Solda[201]ten waren, identifizieren mußte, konnte ich schon im September über Breslau und Berlin nach Thorn zurückfahren.

Wie alle Männer der Familie wurde auch ich Mitglied des Selbstschutzes. Als ich aufgefordert wurde, in die SS und in die Nazipartei einzutreten, lehnte ich dieses Ansinnen der braunen Uniformen ab, die aus dem Reich zu uns gekommen waren. Während der ersten Kriegsjahre, solange ich in Thorn meine Firma leitete, wurde mir mehrmals nahegelegt, Spitzeldienste für die Gestapo zu leisten. Auch das tat ich nicht.

Anfang dreiundvierzig verzichtete ich freiwillig auf eine weitere UK-Stellung. Zu der Zeit war mein langjähriger Klassenlehrer Professor Martin Wilck Stadtkommandant von Thorn. Vorsorglich hatte ich meinem Stellvertreter in der Firma, Arthur Lange, Prokura erteilt. Als ich von einem Skiurlaub in Seefeld zurückkam, lag die Einberufung auf meinem Schreibtisch. Auch mein Prokurist hatte zur gleichen Zeit einen Stellungsbefehl erhalten. Daraufhin ließ ich mir einen Eisenring anfertigen und steckte auf ihn alle möglichen Schlüssel, derer ich habhaft werden konnte. Dann ging ich zusammen mit Herrn Lange zum Standortkommandanten und legte ihm mit der Bemerkung das riesige Schlüsselbund auf den Tisch: ‚Herr Stadtkommandant, ich übergebe Ihnen hiermit die Schlüssel meiner Firma und bitte Sie, die Betriebsführung zu übernehmen.' Wilck starrte wie gebannt auf das Schlüsselbund und sagte: ‚Warum, wieso? Mann sind Sie verrückt geworden.' ‚Nein, noch nicht', sagte ich, ‚Herr Lange, mein Vertreter, dem ich gerade Prokura erteilt habe, ist auch einberufen worden. Ich sehe keine andere Möglichkeit, wie mein kriegswichtiger Betrieb und der Heimatkraftfahrzeugpark weitergeführt werden sollen.' ‚Und jetzt, und jetzt', sagte der Stadtkommandant. Ihm fehlten weitere Worte. Ich bot ihm an, Soldat zu werden, unter der Bedingung, daß der Einberufungsbefehl von Herrn Lange zurückgezogen würde. Dafür werde er sorgen, sagte der Stadtkommandant erleichtert. Herr Lange wurde nicht eingezogen und leitete [202] meinen Betrieb bis zu der Flucht.

Nach meiner infanteristischen Grundausbildung in Braunsberg wurde ich von Ostpreußen nach Minsk verlegt. Hier wurde ich als Reserveoffiziersanwärter zur Partisanenbekämpfung eingesetzt. Das galt als Frontbewährung. Von dort wurde ich zur Kriegsschule nach Dresden versetzt. Nach deren Abschluß beförderte man mich zum Leutnant. Inzwischen war die <große Schlacht in Weißruthenien> ausgebrochen. Die Russen griffen mit hunderten Bombern und Schlachtflugzeugen, tausenden Geschützen und Stalinorgeln sowie großen Panzerrudeln mit aufgesessenen Infanteristen an. Auch gut organisierte Partisanengruppen waren zur Großoffensive übergegangen. Die deutsche Heeresgruppe Mitte unter Feldmarschall Busch verteidigte den eintausendeinhundert Kilometer langen Frontbogen mit vierzig Divisionen. Die hier eingesetzte deutsche Luftflotte 6 verfügte am 22. Juni 1944, dem Tag des Beginns der russischen Großoffensive, über vierzig einsatzbereite Flugzeuge. Binnen sechs Tagen war die Heeresgruppe Mitte zerschlagen. Hitler ersetzte Busch durch Feldmarschall Model, der ein Chaos vorfand. Er vermochte vorerst einen Durchbruch bis nach Ostpreußen zu verhindern.

Das war die Lage, als ich in Ostpreußen eine Infanteriekompanie übernahm. Sie war ein zusammengewürfelter Haufen von echt und unecht versprengten Soldaten, darunter Matrosen, Artilleristen, Kavalleristen. Die Kompanie hatte kein einziges motorisiertes und bespanntes Fahrzeug. Bei russischen Angriffen bekamen wir Unterstützung von zwei oder drei Panzern. Das war alles nur fauler Zauber. Am 26. Februar 1945 setzte ich mich mit meiner Kompanie über das Haff ab. Dabei wurde ich verwundet. Mit einem Kohlendampfer fuhr ich bis Gotenhafen und stieg hier auf ein größeres Schiff um. Auf ihm befanden sich neuntausend Flüchtlinge. Ein russisches Unterseeboot beschoß uns mit drei Torpedos, die aber ihr Ziel verfehlten. Von Saßnitz aus, wo wir an Land gingen, wurde ich in ein Lazarett nach Bückeburg gebracht. Hier habe ich nach langen Bemühungen in Erfahrung bringen können, [203] wo sich Ilse und die beiden Kinder befanden, die aus Thorn geflohen waren.

Nach der Entlassung aus dem Lazarett fuhr ich nach Niederbobritzsch bei Dresden, wo es mit Ilse, Karin und Astrid ein freudiges Wiedersehen gab. Dort meldete ich mich beim Ortskommandanten, der mich nach Mecklenburg zu einer Division der sogenannten Führerreserve schickte. Der älteste Mann im Glied war achtzehn Jahre alt. Mir übertrug man die Führung einer Versorgungskompanie mit achtundzwanzig Fahrzeugen. Mit ihr geriet ich in der Nähe von Parchim in englische Gefangenschaft."

"Ich wurde erst am 10. September 1944 zur Wehrmacht eingezogen, da ich bis dahin als Firmenchef UK gestellt war", begann mein Bruder Hans-Joachim seinen Bericht. "Meine Grundausbildung als Panzerpionier erhielt ich in Jena. Das dauerte bis Weihnachten. Am 28. Oktober schrieb ich einen Brief an meine Mutter, aus dem Du ersehen kannst, wie ich damals über die Lage dachte."

Meine liebe Mutti! Nun will ich endlich an Dich schreiben. Vor allem möchte ich Dir, liebe Mutti, zu Deinem Geburtstag recht herzlich gratulieren. Möge Dich unser Herrgott uns noch recht lange erhalten. Hoffentlich mußt Du nicht aus unserer Heimat fliehen. Für mich ist der Gedanke schwer zu ertragen, daß Du von unserem Hof in eine ungewisse Zukunft irgendwo anders hin ziehen müßtest.

Der Führer soll gerade vor kurzem wieder zu Soldaten gesagt haben, daß die Waffen, die den Krieg beenden sollen, in absehbarer Zeit fertig sind. Wir könnten mit Gewißheit und Zuversicht dem Kriegsende und damit dem Sieg entgegengehen. Liebe Mutti, hoffen wir, daß alles so kommt, wie der Führer es uns sagt.

Wie ich jetzt hier sitze und diesen Brief schreibe, sollst Du jetzt wissen. Wir hausen wie die Räuber in einer Erdhöhle ungefähr einen halben Meter unter der Oberfläche. Darüber ist nur ein Zelt gespannt. Die Behausung ist zwei mal zwei Meter groß. Darin wohnen wir mit vier Mann. Also von Bequemlichkeit keine Spur. Zur Beleuchtung gibt es eine [204] Hindenburgkerze. Ich halte so eine in der Hand, und mit der anderen schreibe ich. Also kannst Du Dir vorstellen, daß die Schrift nicht besonders gut ist. Am Tage komme ich schon gar nicht dazu, Dir zu schreiben, und in der Nacht habe ich Dienst. Heute sind wir auch schon wieder von 1.00 Uhr an auf den Beinen. Es ist jetzt auch schon 8.00 Uhr, und ich muß gleich zur Wache aufziehen. Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Hans-Joachim.

"Nach der Grundausbildung wurde meine Einheit nach Ungarn an die Front verlegt. In dieser Zeit mußten die deutschen Truppen Rumänien räumen. In Ungarn nahm ich an einer großen Offensive teil, bei der meine Panzerdivision vom Plattensee bis einhundert Kilometer südlich von Budapest vorstieß. In drei Tagen hatte sie neunzig russische Panzer abgeschossen. Meine Kompanie war mit drei neuen Königstigern ausgerüstet, die den russischen Panzern weit überlegen waren. Bei diesen Einsätzen wurde ich dreimal verwundet. Die Übermacht der Roten Armee war so groß, daß wir uns nach Österreich zurückziehen mußten. Meine Division teilte sich. Der Verband, dem ich angehörte, kam über Steiermark am 12. Mai 1945 an der amerikanischen Demarkationslinie an. Sie war in Jalta von Stalin, Roosevelt und Churchill festgelegt worden. Diese Schicksalsmacher sind für die Teilungslinie, die Deutschland und Europa bis heute spaltet, verantwortlich. Wir durften die Enns nicht überschreiten. Alle Truppen und Waffen, die sich östlich der Jalta-Linie befanden, gehörten den Russen. Viele Soldaten versuchten, durch den kalten und reißenden Gebirgsfluß zu den Amerikanern hinüber zu schwimmen. Das gelang jedoch nur sehr wenigen. Die amerikanischen Soldaten beobachteten das vom gegenüberliegenden Flußufer aus. Sie riefen mit Megaphonen herüber, die Deutschen sollten warten und sich nicht in das eisige Wasser stürzen. Da nach dem Vertrag von Jalta alle Brücken über die Enns gesperrt waren, handelten die amerikanischen Verbände auf eigene Faust und bauten neben ihnen Pontonübergänge. Auf diesem Wege überquerte meine Einheit geschlossen mit voller Bewaffnung die Enns.

[205] In Neustadt kam ich in ein Gefangenenlager. Das war zwölf Quadratkilometer groß und nur durch Straßen abgegrenzt, auf denen die Amerikaner mit Jeeps patrouillierten. Mir wurden, bald nachdem ich die Waffen und Wertsachen abgeliefert hatte, die Entlassungspapiere ausgehändigt. Ich solle, so wurde mir gesagt, auf einen Transport warten. Das tat ich nicht, sondern machte mich mit zwei anderen Kameraden selbständig. Wir fuhren auf einem Güterzug nach Norden. Die Angehörigen der Waffen-SS wurden von den Amerikanern an die Russen ausgeliefert. Auf Zügen und streckenweise zu Fuß kam ich nach Vechelde bei Braunschweig. Hier wollten wir uns treffen.

In Thorn waren wir mit einem Bauunternehmer befreundet, dessen Firma in Vechelde ihren Sitz hatte. Vorsorglich hatten wir verabredet, daß sich unsere beiden Familien für den Fall einer Flucht in den Westen dort treffen würden. Als ich in Vechelde ankam, war ich sehr enttäuscht, denn Ursula und die drei Kinder Volker, Dietger und Gudula waren nicht da.

Da ich völlig mittellos war und nur das besaß, was ich anhatte, fuhr ich mit dem Fahrrad bis zu meinem Standort Jena, um von der dortigen Bank Geld abzuheben, das ich aus Thorn vorsorglich überwiesen hatte. Sie händigte mir aber nur einen kleinen Betrag aus. Zu der Zeit stand gemäß der vereinbarten Jalta-Linie der Einmarsch der Russen in Thüringen bevor. Deswegen fuhr ich mit dem Fahrrad wieder nach Vechelde zurück. Über die Straßen von Jena waren damals schon Transparente mit der Aufschrift gespannt: 'Wir begrüßen die Rote Armee.' Mir ging es durch den Kopf, wer sie wohl aufgehängt haben mag, deutsche Kommunisten oder ein Vortrupp der Roten Armee. Die Amerikaner waren damit befaßt, Jena vollständig auszuräumen. So wurden beispielsweise die Zeiss-Werke mit Ingenieuren und Maschinen in die amerikanische Besatzungszone gebracht. Wieder in Vechelde angekommen, fand ich eine Postkarte von Ursula vor, aus der hervorging, daß meine Familie sich in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide aufhalte. Daraufhin fuhr ich mit dem Fahrrad zum Hauptbahnhof nach Braunschweig. Hier hatte ich das Glück, [206] einen Lokomotivführer zu treffen, der mir erlaubte, mit dem Rad aufzusteigen. So fuhr ich ein großes Stück nach Norden. Die restliche Strecke bis zu dem Bauerndorf in der Lüneburger Heide fuhr ich mit dem Fahrrad. Dort traf ich meine Familie."


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004