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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Ursula erzählt

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

[161]«In der Nacht, die auf die Rede Hitlers folgte, in der er seine berühmten Worte "ab vier Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen" in das Mikrophon hinein geschrien hatte, fuhr ein Lastwagen auf unseren Hof. Es muß etwa Mitternacht gewesen sein. Unser Polizist aus Rossgarten war mit einer kleinen Streife gekommen, ich weiß nicht mehr, wieviele Männer es waren, um Papa zu verhaften. Er war sehr ruhig und gelassen. Auf seine Bemerkung hin, daß er nach oben in sein Schlafzimmer gehen wolle, um einen Handkoffer zu holen, in den er Unterwäsche zum Wechseln, Zahnbürste, Seife und Handtücher einpacken wolle, entgegnete der Polizist, er könne das tun, aber schnell, gebrauchen werde er die Sachen wahrscheinlich nicht. Papa kam mit dem Koffer die Treppe herunter, zog seinen Wintermantel an und verabschiedete sich zuerst von mir, dann von Ilse und von Mutti. Dann ging er zu Dir, übergab Dir das Schlüsselbund und sagte, jetzt habest Du als einziger Mann im Hause die Verantwortung für den Hof und die Familie, Du sollest in seinem Sinne weitermachen. Dann ging er zwischen zwei Polizisten nach draußen und stieg auf den in der Dunkelheit stehenden Lastwagen. Dort saßen schon einige Verhaftete, die ich aber wegen der Aufregung nicht erkannte.

Wir verfolgten den Vormarsch der deutschen Truppen am Radio. Der Deutschlandsender, den wir immer eingestellt hatten, brachte in kurzen Abständen die Wehrmachtsberichte. Jeder Tag und vor allem jede Nacht erschien uns unendlich lang zu sein. Am Abend des zweiten September wurde hart mit Gewehrkolben an unsere Haustür geschlagen. Du gingst hin, öffnetest die Tür einen Spalt, fragtest, wer dort sei. Da stand schon ein grober Soldatenstiefel in der Tür, die aufgestoßen wurde. Mit gezückter Pistole drang eine polnische Militärstreife unter Führung eines Leutnants bis in das Wohnzimmer vor, wo wir drei Frauen waren. Der Leutnant fuchtelte mit seiner Pistole herum, ging zum Radio und sagte deutsch mit stark polnischem Akzent: "Natiirlich Deutschlandsender".

[162] Dann sagte er, es läge eine Anzeige vor, daß vom Dachboden unseres Hauses den deutschen Flugzeugen mit einer Taschenlampe Blinkzeichen gegeben worden seien. Er habe den Befehl erhalten, uns deswegen zu erschießen. Daraufhin bist Du ganz ruhig geworden und versuchtest, ihn in polnischer Sprache davon zu überzeugen, wie unsinnig diese Anzeige sei. Daraufhin fragte der Leutnant Dich, ob Du der einzige Mann im Hause seiest. Das bejahtest Du und fügtest hinzu, unser Vater sei gestern nacht abgeholt worden. Daraufhin bemerkte der Leutnant, das sei ja dann wohl Strafe genug für die Familie, steckte seine Pistole weg, grüßte militärisch, indem er zwei Finger an den Mützenschirm legte, und fuhr mit seiner Mannschaft, zu der auch ein Sanitäter gehörte, nach Thorn zurück.

Wir wollten uns nicht noch einmal durch solche überfallartigen Besuche überraschen lassen und stellten deswegen unsere Betten in die obere Diele. Einer von uns mußte auf dem unmittelbar davor liegenden Balkon abwechselnd Wache halten, um die Schlafenden zu alarmieren, wenn sich verdächtige Gestalten dem Hause näherten. In der ersten so verbrachten Nacht war alles ruhig. Am darauf folgenden Tag kamen zwei polnische Soldaten mit ihren Gewehren im Anschlag auf den Hof. Wir sahen sie durch die Fenster, wie sie sich dem Haus näherten und schließlich hereinkamen. Wir wußten nicht, ob es von ihrer Einheit desertierte Soldaten waren oder ob es wieder eine kleine Militärstreife war, die den Befehl hatte, uns zu ermorden. Wir fühlten uns vogelfrei. Gesetz und Ordnung waren zusammengebrochen. Die Soldaten gingen auf Ilse und mich zu und gaben uns mit ihren Gewehren zu verstehen, daß wir beide die Treppe in das obere Stockwerk hinaufgehen sollten. Dabei hielten sie sich ganz dicht hinter uns, weil sie befürchteten, in den oberen Räumen könnten Männer sein, die sie erschießen würden. Wir mußten uns im Schlafzimmer meiner Eltern unter den alten Regulator stellen, der meinen Vater morgens immer geweckt hatte. Da standen wir und die beiden Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag vor uns. Sie sprachen polnisch miteinander in der An[163]nahme, wir könnten sie nicht verstehen. Da sagte der eine zu dem anderen: 'So, welche nimmst Du und welche nehme ich.' Da fing Ilse an, polnisch zu reden, sie sollten uns doch am Leben lassen, wir wären noch so jung, wir hätten doch nichts getan, hier sei niemand im Hause, der sie bedrohen würde, wir wären bereit, ihnen etwas zum Essen zu machen. Die beiden guckten uns an, und mit einem Mal sagte einer von ihnen: "Ach, lassen wir sie leben. Heute Nacht kommen sie sowieso dran." Damit gingen sie herunter und wir nach einer Weile hinterher.

Es dauerte dann noch bis zum siebten September, bis durch die eiserne Gartenpforte zwei Soldaten in feldgrauer Uniform auf die Veranda kamen, auf der wir saßen. Einer von ihnen sagte schlicht, wir seien jetzt deutsch. Wir wußten nicht, woher die beiden Soldaten kamen und wer sie geschickt hatte.

In den darauf folgenden Tagen waren wir an der Chaussee, wo wir den durchziehenden deutschen Truppen Blumen und Getränke hinbrachten. Da waren nette, frische Jungens drunter, die strahlten, wenn wir ihnen einen Strauß reichten oder ein Glas Milch gaben. Wir waren glücklich. Waren wir das wirklich? Wenn ich zur Ruhe kam, es waren ja milde, sammetweiche, helle Abende, überfiel mich der Gedanke an meinen Vater. An einem dieser Abende, ich saß mit Mutti auf der Veranda, öffnete jemand die eiserne Gartenpforte. Ich erkannte im ersten Augenblick nicht, wer uns zu so später Stunde noch besuchen wollte. Ein hagerer, hoch gewachsener Mann ging gebeugt auf uns zu und trug einen Mantel über dem Arm. Dann erkannte ich unseren neuen Pfarrer Diederich, von dem wir wußten, daß er mit meinem Vater zusammen verhaftet worden war. "Herr Pfarrer, Sie sind schon zurück, haben Sie meinen Vater gesehen? Wie geht es ihm? Wann kommt er endlich nach Hause?" stürmten wir auf ihn ein. Meine Stimme bebte vor Erregung. Mir schoß das Blut in den Kopf, und ich sah, wie meine Mutter sich in ihrem Korbstuhl an die Lehne preßte und angsterfüllt ihre Augen auf den Mantel richtete, den der Pfarrer über seinem Arm trug. Sie hatte schon längst, [164] schon an der Gartenpforte, den Mantel ihres Mannes erkannt. Pfarrer Diederich berichtete mit stockender, von den blutigen Erinnerungen schmerzerfüllter Stimme, die Verschleppten, es mögen an die fünfhundert Geiseln gewesen sein, übernachteten vom dritten zum vierten September in einem Schuppen. Als er sehr zu frieren begann, habe unser Vater seinen Mantel ausgezogen und ihm gegeben. Am nächsten Tag seien sie über Alexandrowo weiter in Richtung Warschau marschiert. Durch polnische Spitzel, die unter die große Marschkolonne gemischt worden waren, seien zwanzig Männer dem Transportleiter, einem polnischen Hauptmann, als Rädelsführer angezeigt worden. Unser Vater sei unter ihnen gewesen. Dann habe er Schüsse gehört. Wer von den Kugeln nicht tödlich getroffen worden sei, wurde mit Gewehrkolben erschlagen. Von den zwanzig Männern habe keiner überlebt. Unser Vater werde nicht wiederkommen. Soviel sei sicher. Das ganze Erleben sei entsetzlich gewesen.

Wir waren erschüttert und sagten kein Wort. Die Nachricht war an uns abgeprallt wie an Feldsteinen. Am nächsten Tag hatten wir wieder Hoffnung geschöpft, unser Vater könnte vielleicht doch nicht getötet worden sein. Ein weiterer Rückkehrer aus dem gleichen Verschleppungsmarsch , Kurt Gatz, berichtete, er sei, als die Bewacher in die Kolonne hinein geschossen hätten, von einer Kugel getroffen worden. Er sei umgefallen und hatte sich wie tot gestellt, als einer von den Strzelzes ihn mit dem Gesicht nach oben gedreht hatte und ihm in die Augen sah. Sein Blick sei vor Schreck so starr gewesen, daß der junge Bewacher geglaubt habe, er sei tot. Auf diese Weise habe er überlebt. Dieser Bericht gab unserer Hoffnung neue Nahrung. Für uns ging das Leben weiter. Du warst mit den Leuten mitten in der Kartoffelernte. Uns wurden von der deutschen Wehrmacht Beutepferde zur Verfügung gestellt, die wir aus Thorn abholten. Einige Tage lang standen uns sogar mehrere Soldaten mit Gespannen zur Verfügung, mit denen Du bei herrlichem Herbstwetter die Roggenbestellung durchführtest. Betrieb und Haushalt nahmen uns voll in Anspruch, so daß wir [165] kaum dazu kamen, über das grauenhafte Geschehen nachzudenken. Die Gerüchte von den Verschleppungsmärschen von den zum polnischen Militär eingezogenen Familienangehörigen überstürzten sich. Man wußte nicht mehr, was man glauben sollte. Ich dachte, bevor ich die Leiche meines Vaters nicht mit eigenen Augen gesehen habe, glaube ich den Berichten von Pfarrer Diederich nicht. Der Generalkonsul aus Thorn ließ uns wissen, daß er ein Flugzeug zur Verfügung stellen würde, um meinen Vater abzuholen, wenn er sich melde. Dann erfuhren wir, daß Pfarrer Dey dem Weg gefolgt sei, den die verschleppten Geiseln entlang marschiert waren. Er habe in den Straßengräben viele Leichen gefunden. Die Särge mit den Toten seien auf Militärfahrzeugen nach Thorn geschafft worden und würden an einem der nächsten Tage hier beigesetzt werden. Als der Termin feststand, fuhr ich ganz alleine mit dem Einspänner nach Thorn und nahm an der Trauerfeier für die ersten vierzig Opfer teil. Es war eine sehr ergreifende Feier auf dem Altstädtischen Markt vor dem Rathaus. Die schlichten Särge waren in einer langen Reihe aufgestellt worden. Ich war aber nicht auf den Gedanken gekommen, unser Vater könnte dabei sein, denn ich habe, wie gesagt, auf das Wunder gehofft, er würde doch noch zurückkommen. Als der Trauerzug sich in Marsch setzte, an der Spitze eine Militärkapelle, dann die vierzig Särge, folgten ihm viele Menschen. Wir gingen zum Altstädtischen Friedhof, wo ein Massengrab ausgehoben war. Als ein Sarg nach dem anderen hinunter gelassen wurde, war ich sehr erregt und rief, völlig unbeherrscht, nun seien von uns genug Opfer gebracht worden. Mehr könne man von uns nicht verlangen. Am offenen Grab hielt Pfarrer Dey eine sehr eindrucksvolle Trauerpredigt. Er verglich jeden ermordeten Deutschen mit der Rittergestalt des Dürer Bildes 'Ritter, Tod und Teufel'. Des Ritters Ziel sei Gottes Gerechtigkeit. Der Tod, der ihn begleite, könne ihn nicht erschrecken, der Teufel ihn nicht von seinem Ziel ablenken. So wie der Ritter hoffnungsvoll seines Weges ziehe und gemäß Gottes Wille dazu bereit sei, auch sein Leben zu verlieren, hätten die Toten in unerschütterlichem Gottvertrauen sich [166] ihrer Familie, ihrer Heimat und ihrem Volkstum geopfert. In dieser Haltung seien sie uns Lebenden ein Vorbild. Am offenen Massengrab standen auch Männer in braunen Uniformen. Einer von ihnen sprach davon, daß die Toten für Führer und Volk gefallen seien, und erklärte sie zu heldischen Übermenschen. Ich neige mehr dem Bild von Pfarrer Dey zu, denn die Ermordeten waren nicht bereit, zu töten und getötet zu werden. Sie waren wehrlose Opfer und weit entfernt von einem dummen Draufgängertum, das die Nazis meinten, wenn sie von Übermenschen sprachen. In der Trauergemeinde waren auch Werner und Hans-Joachim.

Einige Tage später berichtetest Du, daß man von den nicht identifizierten Leichen Stoffproben der Oberhemden und Anzüge entnommen habe, die sie bei der Ermordung trugen. Sie seien chemisch gereinigt und zusammen mit Fotografien der Toten im Gemeindehaus der Altstädtischen Kirche ausgestellt worden. Du seiest sofort hingefahren und hattest schon an der dritten Stelle die Stoffproben des Anzugs und des Oberhemdes unseres Vaters erkannt. Du sagtest, daß es Dir nicht möglich sei, das Foto seines schrecklich verstümmelten Leichnams zu beschreiben. Jetzt hatten wir die Gewißheit, daß er im dritten Sarg des Massengrabs auf dem Altstädtischen Friedhof lag.

Für unsere Mutter war eine Welt zusammen gebrochen. Sie hatte sich unserem Vater von dem Augenblick an, als der Sonnenstrahl ihr Herz getroffen hatte, in Liebe verbunden gefühlt. In den ersten Tagen und Wochen war sie völlig in sich gekehrt und sprach kaum ein Wort mit uns. Sie hatte die Mitte ihrer Existenz verloren und ging wie im Traum ihren häuslichen Pflichten nach. Erst viele Jahre später war sie in einer seelischen Verfassung, daß wir sie auf unseren Vater ansprechen konnten.»


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004