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Verschleppung der Deutschen 1939  


Rathausturm mit Copernicus-Denkmal

Günther Hewelcke


370 Kilometer verschleppt
2. September bis 28. September 1939


Hans Freiherr von Rosen:
Dokumentation der Verschleppung der Deutschen aus Posen-Pomerellen im September 1939,
ISBN 3-922131-73-5, Bonn 1990, Seite 160 - 166


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(Marschgruppe 36)


Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23], bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.
[160]

Die Abendsonne des 2. September 1939 spiegelt sich in den Fenstern der mit rotem Weinlaub bedeckten Veranda. Draußen im Park stehen viele Bagagewagen des polnischen Tabor (Train) unter den Bäumen, gedeckt gegen Fliegersicht. Man ruft mich ins Haus, in dem es von Ordonnanzen und Meldern schwirrt. Auf der Diele steht ein Gendarm unseres Polizeipostens aus Zbizno. Mit den Worten: "Pan aresztowany" legt er mir die Hand auf die Schulter. Auf meine Frage, weshalb und warum, zuckt er nur mit den Achseln. 10 Minuten bleiben mir Zeit, um das Nötigste zusammenzuraffen und von meiner lieben Frau und meinem Sohn Eberhard Abschied zu nehmen. Auf dem Wojtostwo (Amt) werde ich in das Zimmer des Polizeikommandanten geführt und freue mich, dort meinen Jugendfreund und Nachbarn Kurt Höltzel als Leidensgenossen mit einer Zigarre im Mund sitzen zu sehen. So schlimm kann es also nicht werden, denke ich. Am Schreibtisch sitzt der Kommandant und erzählt uns strahlend, daß die Achse Rom-Berlin nicht mehr bestände. Polnische Truppen hätten Schneidemühl, Dt. Eylau und Bischofswerder besetzt. Der Vormarsch gehe siegreich weiter. Wir quittieren diesen Erguß mit verhaltenem Lächeln. Zur Nacht werden wir in einem Raum auf Strohsäcken untergebracht; nachdem sich inzwischen noch Herr Knorr aus Griewenhof zu uns gesellt hat. Die Lampe brennt die ganze Nacht, und so können wir auch kein Auge zumachen. Im Türrahmen sitzt ein Polizist mit geladenem Karabiner, der mißtrauisch kein Auge von uns läßt. Nach schlafloser Nacht werden wir unter Bewachung nach Strasburg zur Kreiskommandantur gebracht. Unterwegs kommen wir noch einmal durch Hohenlinden durch, und mir wird gestattet, für Minuten meine arme Frau zu sprechen im Beisein des Gendarmen. Die Leute im Dorf wie die polnischen Soldaten auf dem Hof können ihre Genugtuung über unsern Abtransport nur schlecht verbergen. "Cholery Szwaby! Gut, daß sie fort sind!" (Verfluchte Deutsche!) Auf der Kommandantur wird uns gestattet, im Beisein der Frauen, die mit Fuhrwerk uns gefolgt waren, um sich über unser Schicksal zu vergewissern, Mittag zu essen. Dann schlägt erneut die Abschiedsstunde. Wir werden zum Bahnhof geführt, über dem eifrig deutsche Flieger kreisen und wohlgezielte Bomben abwerfen, von denen eine auf eine Weiche am Güterschuppen fällt und diese sprengt. Überall Tumult und große Aufregung der Soldaten, Flakgeschütze böllern, Zivilisten und Soldaten haben Gewehre und knallen unaufhörlich Löcher in die Luft. Der letzte Zug steht bereit. Die wenigen Passagiere zögern noch mit dem Einsteigen und fürchten, daß die Wagen bombardiert werden können. Zwischen Wrotzk und Tokaren bleibt der Zug auf freier [161]Strecke im Wald stehen. Oben über uns kreist wieder ein deutscher Flieger, Maschinenpersonal und Schaffner verlassen den Zug und suchen Schutz unter Wacholdersträuchern, alles rennt, rettet, flüchtet ...

Der Bahnhof in Schönsee ist total zerstört. Wir rangieren dauernd hin und her und finden keinen freien Schienenweg nach Thorn. Endlich, endlich, das Geschimpfe ist nicht mehr zu ertragen, geht es weiter. Im Dunkeln sind wir in Thorn-Mocker, wo man uns herausführt. Auf der Bahnhofstreppe treffen wir mit Herrn Fischer aus Wimsdorf und Herrn Menicke aus Sluchay zusammen. Letzterer hat einen Messerstich in den Rücken von einem Fanatiker bekommen bei seiner Verhaftung. Schwer trägt Herr Höltzel an seinem Koffer, und ich bin froh, nur einen kleinen mitgenommen zu haben. Dann bringt man uns in das Gefängnis, den berüchtigten runden Turm an der Wojewodschaft in Thorn in der Bäckerstraße. Schwer fällt hinter uns das eiserne Tor ins Schloß - der Freiheit beraubt. Mit barschen Worten werden wir, jetzt mit dem Wort "Halunken" betitelt, zu fünfen (Herr Mühlenbesitzer Förster-Gollub war noch hinzugekommen) in eine kleine Zelle gejagt. Das elektr. Licht erlischt, und wir sind uns selbst überlassen. Eine Pritsche steht uns zur Verfügung. Herr Fischer als ältester darf auf dem Strohsack liegen, der voller Wanzen ist. Auch wir anderen am Boden Liegenden bekommen diese in der Nacht zu spüren. Ein Schemel und ein Klosetteimer, den wir der Reihe nach beschämt benutzen, vervollständigen das Inventar. Ab und zu guckt am Tage das Auge des Gesetzes durch die Klappe und überzählt seine Lieben. Wir erhalten dünnen Tee, Kaffee und zum Mittagessen Grütze. Es sollte das letzte warme Essen für lange Zeit sein. Geschlossen werden wir fünf zum Klosett geführt, wo wir endlich unseren Durst am Wasserhahn stillen können. Es vergeht ein Tag und eine Nacht, und schon glauben wir, daß man uns vergessen hat, als bei grauendem Morgen unsere Zellentür aufgerissen wird und wir uns fertig machen sollen zum Abtransport. Schnell wird alles zusammengerafft, und im Trab werden die eisernen Treppen genommen, und wir sind froh, als sich die Gefängnistore hinter uns schließen. Auf der Straße unten steht ein langer, trauriger Zug. Hunderte von Volksdeutsehen, zum Teil nur notdürftig bekleidet, ein paar warme Kleidungsstücke unterm Arm, sind zu fünfen angetreten. Wir schließen uns an. Begleitet wird der Transport von Strzelec-Soldaten, die in dichter Folge an beiden Seiten marschieren und unsere Quälgeister werden sollen. Kommanorufe ertönen: "Bajonett pflanzt auf!" wie "Laden und Sichern!" Der Todesmarsch beginnt. Es geht in eiligem Tempo über die Weichselbrücke, vorbei am Hauptbahnhof gen Ciechocinek. Höltzel muß seinen Koffer stehen lassen. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Es ist der 4. September 1939. Die Straße ist voll von Flüchtlingen zu Fuß und zu Wagen. Sie machen unserer Kolonne nur ungern Platz und machen ihrem Herzen in wüsten Beschimpfungen gegen uns und unser Volkstum Luft: "Ihr Hurensöhne, ihr deutschen Hunde und Hitlerowcy, man muß die Deutschen alle totschlagen! " Einige versuchen, uns zu bespucken, entlassene Soldaten wieder schießen wie wild in unsere Reihen, und fanatische Weiber schleudern in ihrer blinden Wut faustgroße Steine gegen uns Wehrlose. Ein langer Marsch im Eiltempo, und das Schlimmste ist das Aufholen im Trab. Die Füße beginnen zu ermüden, wir haben nichts im Magen - stumm schreiten wir alle dahin.

[162]Unterwegs treffen wir viele Lastautos, bepackt bis oben, erledigte Geschütze und sogar elegante Limousinen mit geschminkten Damen, die voll Verachtung auf uns Arme herabsehen. Dieser Flüchtlingsstrom gibt uns zu denken. Sollte Thorn sich zur Räumung vorbereiten? Im Gefängnis hatte das eingebaute Radio uns doch von polnischen Siegen erzählt und unaufhaltbarem Vormarsch. Waren die Truppen, die wir in der Nacht im Gleichschritt hörten, etwa auf dem Rückmarsch?

Nach einem 30-km-Marsch treffen wir am Bahnhof Alexandrowo ein und werden in einem alten Zollschuppen untergebracht. Da alle Geleise durch Bomben zerstört sind, ist an ein Verladen nicht zu denken. Die erste Rast. Wir bekommen etwas Wasser, und die meisten zehren noch an den von zu Hause mitgebrachten Lebensmitteln. Viele Bekannte, gute Freunde, vor allem die Führer des Deutschtums, begrüße ich hier mit stummen Händedruck. Dann sitze ich mit Höltzel zusammen, der von seinen reichen Vorräten an Bedürftige verteilt. Auf harten Dielen versuchen wir etwas zu schlafen. Kommandorufe schrecken uns auf. Wir werden aufgejagt und zusammengetrieben. Ein Pole glaubt, ein Gespräch über eine beabsichtigte Flucht einiger gehört zu haben, und hat dies der Führung gemeldet, was aber nicht zutrifft. Unter uns Verschleppten gibt es auch Ukrainer, Weißrussen und Nationalpolen. Letztere sollen uns aushorchen. Der Kommandant des Zuges, Hauptmann Zizewski, im Zivilberuf Redakteur in Thorn, von der Schulungsabteilung des 89. Infanterie-Regiments, ist außer sich vor Wut. Wir müssen in Kniebeuge zu vieren antreten, und die Wachtposten werden auf uns losgelassen. Ohne nähere Untersuchung werden angeblich als Rädelsführer die Herren Dr. Braunert, Kittler, Längner, Krüger und Thom herausgesucht und sollen erschossen werden. Sie werden hinausgeschleppt, wir hören wohl Jammerrufe, wissen aber nicht, was mit ihnen geschieht. Sie gingen später am Ende des Transportes, wurden immer wieder mißhandelt und allmählich zu Tode gequält oder erschossen. Beim Weitermarsch müssen wir Messer, Flaschen, Wassertöpfe und unser Gepäck wegwerfen, was uns sehr schmerzlich ist. Die Wut der Begleitmannschaften, die Blut gerochen haben, kennt keine Grenzen. Wie Vieh werden wir vorwärts getrieben. "Czworki - laczyc" (Zu vieren, aufschließen!) rufen sie in einem fort. Es ist die Hölle auf Erden. Nicht mal die Verrichtung der Notdurft wird uns gestattet. Wer abseits bleibt, wird mit dem Kolben oder Bajonett bearbeitet. Viele sinken um. Der ganze Zug stolpert über die Gefallenen. Ab und zu wird etwas Rast gemacht. Wir werfen uns dann vor Ermüdung oder Erschlaffung auf den Boden und schlafen auch gleich ein. Plötzlich fallen Schüsse von der Seite. Unsere Wächter erwidern diese, und es gibt eine wilde Schießerei. Wir denken, es ist eine deutsche Patrouille, und hoffen auf Errettung. Scheinbar waren es aber versprengte polnische Soldaten. Wir werfen uns auf Kommando hin und stecken die Köpfe tief in den Sand, denn über uns pfeifen die Kugeln. Mancher wird getroffen und sinkt in sich zusammen. Jemand ruft: "Das ist ja Verrat! " Hauptmann Zizewski schießt ihm eine Kugel durch den Kopf. Da ruft der Ärmste noch: "Wenn ihr schon schießt, dann schießt mich richtig tot! " Worauf ihm der Hauptmann noch eine Kugel durch den Kopf jagt. Der Unglückliche war mein Nachbar Höltzel, wie ich später erfuhr. Er muß sehr erregt gewesen sein durch die unglaubliche Behandlung. Tief hat mich der Tod dieses tapferen Mannes und Freundes erschüttert [163] und mir den Ernst meiner eigenen Lage erneut vor Augen geführt. Bis zum 16. September 1939 wurden wir nun so teils auf Chausseen, teils auf Landwegen vorwärtsgetrieben durch sandige Wälder, vielmehr Kusseln, Sümpfe und sogar durch die Bzura, in der uns das Wasser bis zu den Hüften reichte. Schrecklich quälte uns der ewige Durst, da wir nur sehr selten Wasser bekamen. Am Tag litten wir unter der Hitze, und in der Nacht machte sich die Kälte schon recht bemerkbar. Da wir nie warmes Essen bekamen und nur von rohen Feldfrüchten, Obst und erbettelten Brotkrusten lebten, war der Hunger unerträglich. Unsere Leiden waren namenlos. Ich und die meisten anderen hatten Wunden an den geschwollenen Füßen, die eiterten und sehr schmerzten. Von den Gewaltmärschen waren die Beine bei vielen angeschwollen. Sie fielen hin und wurden von den Strzelcy einfach erschlagen. Der Mund war wie ausgedörrt. Die Lungen arbeiteten schwer in den sandigen Waldwegen. An Brunnen durfte kein Halt gemacht werden. Wer dennoch aus offenen Ziehbrunnen Wasser schöpfte, wurde rücksichtslos zurückgetrieben und mit Kolben und Bajonett bearbeitet. Viele liefen barfuß, und mancher schleppte sich tiefgebeugt weiter, da sein Herz nicht mehr in Ordnung war. Wer fiel, blieb liegen. Wir hörten dann hinten einen Schuß und wußten, daß er ausgelitten hatte. Gequält, gemartert, mißhandelt und unmenschlich geschlagen brachen auf diesem Todesmarsch von 370 km ca. 200 Volksdeutsche von 500 zusammen. Der Fliegergefahr wegen wurde nur in der Nacht marschiert, und am Tage wurden wir in Gutsställen auf Kuh- und Schafmist eingesperrt oder vielmehr eingepfercht. Einmal verbrachten wir eine Nacht in einem Fabrikgebäude und einem Spritzenhaus. Überall war es entsetzlich überfüllt. Auf dem Bahnhof Zeylon sollten wir verladen werden. Zu 50 bis 60 wurden wir in Viehwagen getrieben, in denen sich bald ein entsetzlicher Gestank entwickelte, denn es war sehr heiß, und viele mußten ihre Notdurft im Waggon verrichten, da alle Türen und Luken geschlossen wurden. Wir verlebten Stunden der Qual. Da der Schienenweg scheinbar gesprengt war, mußten wir nach kurzer Fahrt wieder raus. Da wir auf offener Strecke hielten, mußten wir aus den Waggons herausspringen, was unseren armen Füßen auch nicht gerade gut tat. Dann ging es wieder im Galopp weiter. Vorwärts! Vorwärts! Ungeziefer und Fliegen plagten uns entsetzlich, besonders die Verwundeten und Fußkranken. Es war ein trauriger Zug, der da einherzog. Verzagt, an Leib und Seele gebrochen, schleppten wir uns untergehakt dahin, einander Trost und Hoffnung zusprechend. Im Gebet und im nahen Grollen der deutschen Geschütze fanden wir einen Halt. Viele verzweifelten und gaben jede Hoffnung auf eine Änderung ihrer Lage auf.

Auf dem Eilmarsch in der Nacht vom 15. zum 16. September beim Morgengrauen auf der Chaussee ca. 8 km vor Warschau war es mit meinen Kräften zu Ende, und ich ergab mich in mein Geschick. Meine schwerkranken Füße wollten nicht mehr weiter, trotzdem Kamerad Riedel aus Goral bei Konojad sich sehr um mich bemühte. Ich ergab mich in mein Schicksal, brach zusammen und erwartete jeden Moment einen Kolbenschlag, der meiner Qual ein Ende machte. Als ich aus der Betäubung erwachte, war Riedel fort, und zu beiden Seiten von mir saßen zwei Gendarmen, die meine Taschen durchsuchten, nachdem sie meine Uhr nebst goldener Kette abgenommen hatten. Sie fanden auch noch zirka 200 Zloty in meiner Brusttasche und entfern[164]ten sich mit den Worten: "Wir werden jetzt ein Fuhrwerk zum Abtransport besorgen!" Ich habe beide nicht wiedergesehen. Wie lange ich im Dämmerzustand im Graben gelegen habe, vermag ich nicht zu sagen. Als ich erwachte, fuhren die ersten Milch und Gemüsewagen gen Warschau. Vorübergehende lehnten jede Hilfe ab. Ich befand mich am Eingang eines größeren Dorfes. In langer Reihe standen die Leute vor einer Bäckerei und warteten auf die Ausgabe von frischem Brot. Ich wagte nicht heranzugehen. Langsam schleppte ich mich zu einem Kätnerhaus und bat um Wasser. Mein Durst war kaum zu löschen. Dann riet man mir, zu einem nahen Juden zu gehen, wo ich etwas zu essen bekäme. Er erkannte in mir gleich den deutschen Flüchtling, betitelte mich mit " Szwab" , und ich sollte schleunigst verschwinden. Ja, an mein Aussehen hatte ich gar nicht gedacht. Die Haare hingen mir wild ins verschmutzte Gesicht, das ich wie meine Hände mehr als 14 Tage nicht gewaschen hatte. Das Gesicht umrahmte ein ins rötliche schimmernder Stoppelbart. Mein Anzug ließ auch zu wünschen übrig, denn auf ihm klebte eine Kruste von Kuh- und Schafmist. Strümpfe besaß ich schon lange nicht mehr. Als Taschentuch diente mir ein schwarzer Lappen, den ich mich schämte vorzunehmen. Ich schleppte mich nun von Haus zu Haus, ohne irgendwo unterzukommen. Vergebens, mit einem Landstreicher, dazu noch einem "Szwab", wollte keiner etwas zu tun haben. Zuletzt ging ich zum Soltys (Gemeindevorsteher) und stellte mich dort als ein vom Transport Abgekommener. Er wußte nichts mit mir anzufangen, zumal das Geschieße der Artillerie immer näher kam und die deutschen Flieger in vermehrter Anzahl in der Luft kreisten. Ein herbeigerufenes junges Mädchen dolmetschte, und allmählich wurde dem Amtsgewaltigen klar, wer ich war. Ich glaubte nun, sofort verhaftet zu werden, aber nichts derartiges geschah. Im Gegenteil, er führte mich aus der sich inzwischen angesammelten Menge heraus in ein leeres Haus und machte mir dort ein Lager aus Stroh zurecht. Das hatte ich nicht erwartet, und ich durfte dieses Entgegenkommen nur den Fliegern verdanken. In einer Ecke meiner Stube lagen noch ein paar zurückgelassene Lumpen, die ich über das Strohlager legte, und dann versank ich in einen traumlosen festen Schlaf. Die Dolmetscherin brachte mir freundlicherweise warme, wenn auch recht dünne Getränke, Kartoffeln und eine andere gutmütige dicke Frau sogar etwas Brot mit Speck belegt, das ich gierig verschlang. Ich hatte nur wenig Appetit, da die Beine sehr schmerzten, wenn ich zur Verrichtung meiner Notdurft die Stube verlassen mußte. Wie war ich froh, daß ich der Rotte entronnen war, und ich konnte mir jetzt die Zeit einteilen, wie ich wollte. Allmählich fanden sich auch andere Flüchtlinge, wie versprengte und zurückgehende Soldaten ein. Sie fragten mich zwar nach woher und wohin, doch ließen sie mich zufrieden und gaben mir oft von ihren Lebensmitteln etwas ab. Meine Ernährerinnen besuchten mich täglich und erkundigten sich teilnehmend nach meinem Ergehen. Ich hatte ihnen Geld gegeben und bat sie, weiter für mich zu sorgen. Das Grollen der Geschütze von Freund und Feind kam immer näher, und auch deutsche Flieger warfen ihre Bomben in nächster Nähe ab. Wir liefen dann alle in den Keller des Gemeindehauses, der vorher als Ziegenstall gedient hatte und voller Mist war. Aber er war aus Steinen gemauert und bot so etwas Schutz. Hier verbrachte ich mit vielen anderen manche Nacht in den fünf Tagen meines dortigen Aufenthaltes, obwohl es oft sehr eng [165]war und wir übereinander lagen. Die Front rückte näher und näher. Flüchtende Soldaten durcheilten unser Dorf, teilweise schon ohne Waffen und in aufgelöster Ordnung. Die Bewohner hatten das Dorf inzwischen verlassen, da sie die Bomben, die immer näher fielen, fürchteten. Ich litt bitter Hunger, denn meine Frauen kamen nicht mehr, und ich habe meine Wohltäter nicht wiedergesehen. Die fehlende Nahrung mußte durch Wasser, das im Brunnen des Nachbarhauses reichlich vorhanden war, und Schlaf ersetzt werden. Am 21. September machte eine Fliegerbombe meinem dortigen Aufenthalt ein jähes Ende ...

In meinem Zimmer hingen die Bretter von der Decke herunter. Ich selbst war über und über mit Mörtel und Kalk bedeckt. Draußen schloß ich mich in der Verwirrung flüchtenden Soldaten an, die vorbeiliefen, und wir legten uns in einen Graben. Von allen Seiten krachte es. Die Hölle schien los zu sein.

Plötzlich ein ungeheurer Krach. Ich sprang entsetzt auf und lief zum Keller, sah aber unterwegs noch, wie die eine ganze Seitenwand des Hauses sich nach innen schob und einzelne Balken herausfielen. Fast gelähmt vor Schreck sprang ich mit einem Satz in den Keller und ließ das heftige Feuer über mich ergehen. In meinem Gehirn rasten die Gedanken. Das mußte die artilleristische Vorbereitung sein, und nun setzten die Deutschen zum Sturm an. Jetzt stürmte ich auf die Dorfstraße, so schnell ich es mit meinen kranken Beinen konnte. Auf der Dorfstraße kam mir in rasendem Gewehrfeuer ein großer deutscher Infanterist entgegen, den Arm voller Handgranaten. Ich warf die Hände hoch und schrie: "Verschleppter Deutscher!" "Nach hinten!" rief er und warf die nächste Handgranate in den Flur des eben verlassenen Hauses. Ich lief weiter, ohne mich umzusehen. Auf der nahen Chaussee standen Militärautos. Ein ungeheures Glücksgefühl durchrieselte mich. Dem Tode entronnen. In kurzem Gebet dankte ich dem allmächtigen Schöpfer, daß er mich aus den Klauen dieser Mörder und Banditen errettet hatte. Ich dachte wieder an zu Hause, an meine Frau und Kinder und lebte wieder auf, während ein deutscher Soldat mich zum Gefangenensammelplatz nach hinten führte. Gemeinsam mit polnischen Zivilisten und gefangenen polnischen Soldaten wurden wir weiter transportiert. Vom Begleitpersonal wurde ich nicht recht als Volksdeutscher anerkannt, und man glaubte meinen Schilderungen, die ja recht romantisch klangen, nicht. Es war nicht möglich, einen Offizier zu sprechen und mich diesem als ehemaliger deutscher Reserveoffizier auszuweisen ...

Endlich sah ich deutsche Sanitäter und auch Ärzte. Als letztere an mir vorbeikamen, sprang ich kurz entschlossen auf und gab mich als ehemaliger deutscher Offizier zu erkennen. Man musterte mich und mein ganzes Äußeres mit gewissem Erstaunen und wollte mir nicht recht glauben. Erst als ich angab, daß ein Bruder von mir deutscher General sei, und eine diesbezügliche telefonische Bestätigung von Herrn von Kleist vom Stab der 24. Infanteriedivision eingeholt war, schenkte man meinen Schilderungen, die alle Herren sehr interessierten, Glauben. Ich wurde nun sehr freundlich aufgenommen, bewirtet, rasiert und mit anderer Wäsche und teilweise neuen Kleidern ausgestattet, so daß ich wieder menschlich aussah.

Am 26. September brachte mich ein Flüchtlingszug mit vielen anderen verschleppten [166]Volksdeutschen nach Thorn, wo sich die NSV meiner annahm. Am 28. brachte mich Herr Brook-Thorn in freundlicher Weise in seinem Auto nach Hause. Hier fand ich meine liebe Frau und meine Kinder gottlob gesund und wohlauf vor und fand Haus und Hof in leidlicher Ordnung an.

Fast vier Wochen war ich unterwegs gewesen und Gott sei gedankt für die wunderbare Errettung aus tiefster Not.

Hohenlinden, im Januar 1940

Günther Hewelcke

 

 

Quelle: Hans Freiherr von Rosen: Dokumentation der Verschleppung der Deutschen aus Posen und Pomerellen im September 1939; Berlin, Bonn 1990; ISBN 3-922 131-73-5

Seite 160 - 166



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Verschleppung der Deutschen 1939  

© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-www.de
letzte Aktualisierung: 13.03.2004