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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Wo meine Mutter einkaufte

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Mein Vater hatte sich niemals abfällig über die Juden geäußert. Er hielt sehr viel von preußischer Rechtsstaatlichkeit. Einmal, als im Familienkreis von den Juden im preußischen Staat die Rede war, zitierte er den Staatskanzler v. Hardenberg, der 1810 gesagt haben soll: "Ich stimme für kein Gesetz der Juden, das nicht die vier Wörter enthält: Gleiche Pflichten, gleiche Rechte." In einem späteren Gespräch mit meiner Mutter sagte mein Vater: "Hitler hat viel Gutes getan. Mit dem Versailler Vertrag konnte es nicht so weitergehen. Er hat sechseinhalb Millionen Arbeitslose von der Straße weggebracht. Aber, was er mit den Juden vorhat, das wird ihm einmal das Genick brechen."

Mein Vater war mein erster und wichtigster Lehrer. Er hatte mich als Heranwachsenden gelehrt, dem Schwächeren gegenüber gerecht zu sein. Jeder Mensch, unabhängig von Rasse, Religion, Nation und Stand, habe das Recht zu leben. Die Gerechtigkeit, die er meinte, war von der Idee des preußischen Rechtsstaates abgeleitet. Sie verwirklichte er in der Familie, auf unserem Hof, in unserem kleinen Dörfchen und in der Niederung. Dafür stand er ein: gleiche Pflichten, gleiche Rechte. Diese vier Wörter waren unser Familiengesetz. Ich hatte immer den Eindruck, als ob bei meinem Vater die Pflichten in seiner Werteordnung obenan standen. Wenn der Mensch in der Gemeinschaft, in der er lebt, seine Pflicht tut, hat er Anspruch auf Gerechtigkeit.

Das Radio hatte unser Wohnzimmer erobert. Wir hörten nie [119] den polnischen Rundfunk, sondern ausschließlich den Deutschlandsender. Vor 1933 waren die Wortsendungen manchmal sehr schlüpfrig. Meine Mutter sagte dann, daß seien jüdische Rundfunksprecher. Ihre Sendungen seien nicht für uns Kinder geeignet. Sie würde uns wieder in das Wohnzimmer rufen, wenn sie vorüber seien. Sie selber schmolz aber hin, wenn ihre Lieblingssänger Richard Tauber und später Joseph Schmidt im Radio sangen. Ihre negative Einstellung zu den Juden hinderte sie auch keineswegs, den gesamten Textilbedarf unserer großen Familie bei dem Juden Kopf, dem Inhaber des Kaufhauses Leiser am Altstädtischen Markt, zu decken.

Immer dann, wenn sie in das Geschäft hineinging, ich hatte sie oft begleitet, wurde sie von Herrn Kopf sofort gesehen und sehr liebenswürdig begrüßt. Er ließ dann alle anderen Kunden stehen, widmete sich allein meiner Mutter, komplimentierte sie wortreich in ein kleines, gemütliches Kontor, ließ eine Tasse Kaffee und Konfekt bringen. Von jeder hektischen Geschäftigleit abgeschirmt, ließ der jüdische Geschäftsmann die gewünschten Stoffe von jungen, smarten Verkäufern vorführen. Sie schleppten die großen Stoffballen in den besagten Nebenraum, warfen sie mit einem Knall auf den Tisch und entrollten die herrlichsten Gewebe, die man sich nur vorstellen kann. Dann trat Kopf hinzu und ließ die ganze Fülle des Stoffes seinen Arm herunterrieseln. Von meiner Mutter wurden damals sämtliche Stoffe für unsere Bekleidung bei Leiser gekauft, obwohl es in Thorn auch Geschäfte mit deutschen Inhabern gab. Die Kleider wurden dann von einer Hausschneiderin und die Anzüge und Mäntel von einem Schneider in der Stadt genäht. Nachdem Kopf seine Stoffe ins rechte Licht gerückt hatte und eine Vorauswahl getroffen worden war, ging eine Prozession, Kopf voran, dann meine Mutter mit ihren sie begleitenden Töchtern und zwei Verkäufer mit den geschulterten Stoffballen, quer durch das Kaufhaus zur Eingangstür. Hier konnte die Wirkung der Farben bei Tageslicht in der richtigen Weise begutachtet werden. Erst nachdem diese Zeremonie, die mich sehr langweilte, [120] abgeschlossen war, fiel im Kontor die Kaufentscheidung.

Wir Kinder bekamen, solange wir klein waren, einen bunten Gummiball oder einen Luftballon geschenkt, und die Erwachsenen genehmigten sich ein Likörchen oder auch zwei. "So sind die Juden," sagte meine Mutter einmal, als wir das Geschäft von Kopf verlassen hatten, "sehr geschäftstüchtig und sehr liebenswürdig. Sie haben aber einen anderen Glauben und andere moralische Werte als wir." Ich hatte damals nicht verstanden, worin konkret diese Andersartigkeit der Juden bestand. Meine Eltern haben es mir auch nie eindeutig erläutert. Es blieb für mich in meiner Kindheit eine Grauzone, die nur mit unklaren Schlagworten besetzt war. Alles, was mit Synagoge und jüdischem Glauben zu tun hatte, war mir unter dem Einfluß des evangelischen Elternhauses unheimlich geblieben.


 
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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004