HEIM@THORN Editorial - Inhalt Die Thorner Stadtniederung - Inhalt Das Buch - Inhalt
Quelltexte - Inhalt Anhang - Inhalt Die Links Mein Thorn

Thea Wohlgemuth

Das deutsche Gymnasium in Thorn
zwischen den beiden Weltkriegen



Copyright by: "Kirchendienst Ost", 1 Berlin 45, Drakestr. 37
[Dieser Dienst ist weder an dieser Adresse noch sonst irgendwo zu finden!]
Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH., 1 Berlin 61

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23] , bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.



[5] Thorn an der Weichsel - die alte Ordens- und Hansestadt, im Wilhelminischen Kaiserreich die zweitgrößte Festung Deutschlands, - war nicht nur handelspolitisch und militärisch eine bedeutende Stadt, sondern weithin wegen der kulturellen Leistungen bekannt.

Um 1900 waren die Träger der städtischen Kultur im wesentlichen drei Schichten des Bürgertums: eine alteingesessene Kaufmannschaft, ein wechselndes Offizierskorps und ein ruhiges Beamtentum. Wenn auch damals jeder seinem Kreis angehörte, so kannte er doch keine Enge. Schon nach kurzer Zeit fühlte sich ein Fremder als "Thorner" und wurde von allen als solcher begrüßt und anerkannt. Die Weite und Großzügigkeit des Ostens, die Freiheit des Geistes, der Kunst und Wissenschaft prägten die Menschen. Ein Mittelpunkt, ein Gesellschaftshaus für die Bürgerschaft war der 1889 wieder neu erbaute Artushof, - den Hauptteil der Mittel hatte die Stadt gestellt. Ein 24 m langer und 13m breiter Saal gab den würdigen und ausreichenden Raum für Konzerte und Vorträge; drei kleinere Säle, Vereinsräume und Gastzimmer standen für Sitzungen und Festlichkeiten bereit. - Im Winter 1904 wurde ein Stadttheater eröffnet. Die beiden Sandsteinfiguren vor dem Gebäude, die ernste und die heitere Muse, deuten an, daß der Spielplan beiden gerecht werden wollte, und dank der 900 Plätze, die das schmucke Innere aufwies, konnte das Theater weiten Kreisen zugänglich werden. - Ebenso ließ es sich die Stadt angelegen sein, ein schon 1861 gegründetes Museum zu unterhalten (im 2. Stock des Rathauses) und durch das Zusammenlegen von bisher getrennten Büchereien eine Stadtbücherei zu gründen (Anfang 1914).

Der Ruhm der Stadt aber waren die Schulen: 8 Volksschulen, eine Mittelschule für Knaben, eine für Mädchen, ein Städtisches Lyzeum und Oberlyzeum, eine Höhere Privat Mädchenschule-Wentscher, eine Privatschule-Kaske, ein Königliches Gymnasium und Realgymnasium, 2 Präparandenanstalten und Lehrerseminare (ev. und kath.), eine Königliche Gewerbeschule mit den Unterabteilungen: Bauschule, Handelsschule, Haushaltungs- und Gewerbeschule für Mädchen. Eine stattliche Zahl von Schulen für eine Zivilbevölkerung von 39 139 Personen nach der Volkszählung vom l. Dezember 1916! "Ruhm der Stadt" soll nicht heißen, daß Thorn andern großen Städten mit seinen Schulen voraus war oder bessere Leistungen aufzuweisen hatte, sondern daß die Stadtväter offen waren für gesunden Fortschritt und nicht zurückstanden, wenn eine neue pädagogische Reformbewegung durchs Land ging. Alles in allem: es lebte sich gut in solch einer geistig regen und beweglichen Stadt. Niemand ahnte, daß mit einem Schlag alles verloren gehen könnte.

[6] Der Umschwung vollzog sich nach dem ersten Weltkrieg gemäß den Bestimmungen von Versailles. Von den genannten Kulturbauten behielt die deutsche Bevölkerung nur das Gebäude der ersten Gemeindeschule in der Bäckerstraße - für eine deutsche Filiale des Polnisch-Staatlichen Gymnasiums (Gimnazjum Państwowe - Filja niemiecka - w Toruniu). Merkwürdig genug, daß die letzten deutschen Schüler des Thorner Gymnasiums wieder in denselben Räumen unterrichtet wurden, die seit dem Bestehen der Schule mit ihrer Geschichte eng verbunden sind. Bekanntlich reichen die Anfänge des Gymnasiums in das 16. Jahrhundert zurück, in die Zeit der Reformation und des Humanismus1. Als die Stadt 1557 durch König Sigismund August Religionsfreiheit erhielt und die Kirchen in evangelische Hände übergingen, da löste sich auch zwei Jahre später das alte Franziskanerkloster auf, und die beiden letzten evangelisch gewordenen Mönche übergaben ihr Kloster dem Rat der Stadt. Es stand an der Nordseite der Marienkirche, in einem Baublock zwischen Marien- Bäcker- und Klosterstraße2. Wie in Elbing und Danzig, so [7] wurde nun auch in Thorn ein sechsklassiges Gymnasium gegründet und am 8. März 1568 im ehemaligen Franziskanerkloster eröffnet. Die Anfänge dieses Gymnasiums sind eng verknüpft mit der aus Frankfurt/0 eingewanderten Familie Stroband. In drei Generationen bekleidete sie das Amt eines Bürgermeisters der Stadt, der letzte - Heinrich Stroband 1548-1609 - ist der bedeutendste, dem die Stadt Thorn viel zu danken hat, dessen vordringliches Anliegen aber das Schulwesen war. Angeregt durch den Straßburger Pädagogen Johannes Sturm, erweiterte er die Schule zu einer zehnklassigen Anstalt und fügte eine Curia suprema an, als Grundstock einer künftigen Akademie gedacht. Die Gymnasialbibliothek mit wertvollen Handschriften, seltenen Drucken und Büchern verdankt ihm ihren Ursprung (noch heute zählt sie etwa 6300 Bände aus der Zeit vor 1800). Für die auswärtigen und einheimischen Schüler verband der Rat auf sein Bestreben hin das Gymnasium mit Alumnaten. Solch eine Schulökonomie war das Gebäude in der Bäckerstraße.

Nach eineinhalb Jahrhunderten - als Folge des "Thorner Blutgerichts" 1724 - sollte dieses Haus Zufluchtsstätte für das ev.-akademische Gymnasium werden, als man die Marienkirche und das ehemalige Kloster den polnischen Franziskanern, den "Bernhardinern", überlassen mußte. - Nicht ganz 200 Jahre später, 1921, ziehen wieder deutsche Gymnasialschüler und Lehrer, sich still dem Schicksal fügend, ihre 1855 neu erbaute große Schule in der Strobandstraße verlassend, in das Gebäude in der Bäckerstraße ein.

Es ist nicht leicht, aus dem Wirrwarr der Übergangszeit die Entstehung dieser Schule zu rekonstruieren. Man muß sich noch einmal an die historischen Tatsachen erinnern. Am 18. Januar 1920 erfolgte die Übergabe der Stadt an den polnischen Staat. Der Bevölkerung - soweit sie vor 1908 in den bis dahin preußischen Provinzen Westpreußen und Posen ansässig war - blieb es anheimgestellt, sich innerhalb von zwei Jahren durch Option für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden, sonst wurde ihr automatisch die polnische Staatsbürgerschaft zugesprochen. Wer nach 1908 nach Westpreußen oder Posen gekommen war, galt als deutscher Staatsangehöriger und hatte grundsätzlich das Land zu verlassen. Damals - 1920 - fand die erste große Abwanderung der Deutschen aus dem Osten in unserem Jahrhundert statt, und gleichzeitig erfolgte der erste große Zustrom polnischer Bürger. Dieses Gehen und Kommen veränderte auch das Bild der Schulen. Zwar hatte der Völkerbund unter bestimmten Bedingungen deutsche Volksschulen und Oberschulen garantiert, aber der Staat fand Mittel und Wege genug, überall deutschsprachige Schulen zu schließen. Deshalb entstand der "Deutsche Schulverein in Polen", der dafür arbeitete und kämpfte, daß deutsche Knaben und Mädchen deutsche Schulen besuchen konn[8]ten. 1937 unterhielt er 100 private deutsche Volksschulen und vier private deutsche Gymnasien (Bromberg, Graudenz, Posen, Lissa).

Thorn hat als einzige Stadt in den früher deutschen Gebieten ein "Staatliches Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache" erhalten. (In ganz Polen gab es nur zwei Schulen dieser Art; das 2. Gymnasium befand sich in Bielitz im ehemaligen österreichischen Gebiet). Die Absicht der polnischen Regierung, das deutsche Thorner Gymnasium als Filiale der staatlichen Anstalt bestehen zu lassen, wenn sich Kollegen in genügender Zahl bereit fänden, wurde von dem letzten Direktor der deutschen Zeit (Ganske) in einer Konferenz dem Kollegium mitgeteilt. Trotzdem löste sich das Kollegium auf, ein Herr nach dem [9] andern wanderte ab. Zurück blieben Dr. Mautsch,


der im Sommer 1919 nach Thorn versetzt worden war, und Professor Dr. Prowe, dem als ältesten die Vertretung des Direktors übertragen wurde. Seine Familie war seit 1619 in Thorn ansässig. In ihm respektierte auch die neue polnische Schulbehörde gewissermaßen Würde, Vergangenheit und wissenschaftlichen Charakter des Thorner Gymnasiums. Ihm ist es zu verdanken, daß er einen Kreis neuer Mitarbeiter fand bzw. zum Bleiben bestimmte. Ostern 1920 kamen die Herren Fellner aus Kulm und Wilck aus Neumark/Westpreußen an die Anstalt. Es sei hier vermerkt, daß an polnischen staatlichen Gymnasien jeder Akademiker mit der Anstellung ein Diplom erhielt, das ihm den Titel "Professor" zuerkannte. Die deutsche Filiale war eine staatliche Einrichtung, die Lehrer waren polnische Beamte, damit fielen für sie die deutschen Bezeichnungen: "Studienassessor", und "Studienrat" fort. Im Sommer 1920 traten die Herren Hilgendorf und Renee ein, für den Religionsunterricht und für Latein wurden zwei Geistliche herangezogen (Pfarrer Wohlgemuth und Dr. Heuer), den polnischen Unterricht erteilten die Herren Weglorz und Kowalski. Im ganzen brachten die ersten zwei Jahre viel ständige Bewegung und Veränderung im Lehr[10]körper und bei den Schülern. Lehrer, die sich für Polen entschieden hatten, aber die polnische Sprache noch nicht beherrschten, wurden in die deutschen Klassen geschickt und wieder fortgenommen, neben deutschen Schülern saßen die Söhne französischer Besatzungsoffiziere, die Zahl der Schüler ging von Tag zu Tag infolge der Abwanderung zurück. Die größte Unruhe brachte die Enge des Schulraumes mit sich. Es läßt sich heute nicht mehr feststellen, von wem die Anregung ausgegangen ist, in das Gebäude in der Bäckerstraße umzusiedeln. Der Wechsel war niederdrückend, doch bald empfanden Lehrer und Schüler die Wohltat, im eigenen Gebäude zu sein, ein ruhiges Sonderdasein führen zu dürfen3. Zehn Jahre lang war es ihnen im großen und ganzen vergönnt. Es genügte dem Schulkuratorium (Landesschulkollegium) das "Państwowe Gimnazjum Humanistyczne, filja niemiecka" am selben Ort zu haben und zur Reifeprüfung den zuständigen Visitator (Oberschulrat) zu schicken. Die erste Reifeprüfung in der Bäckerstraße, am 19. 6. 1922, war deshalb bemerkenswert, weil sechs Mädchen dabei waren und die Prüfung bestanden. Sie waren mit den Schülern zusammen unterrichtet worden, nachdem das Oberlyzeum aufgelöst worden war. Mit dem neuen Schuljahr 1922/23 trat am l. September Frau Dorothea Wohlgemuth ins Kollegium ein, und ein Jahr später, im November 1923, vollzog sich die für lange Zeit letzte große Veränderung: das Gymnasium wurde Koedukationsschule. Der provisorische Leiter des Lyzeums, Herr Studienrat Friedrich Wellmer, mußte als Reichsdeutscher die Stadt binnen drei Tagen verlassen. Das war der Dank für schwere, aufopfernde Arbeit, die ihm nach dem Fortgang von Direktor Maydorn und dem alten Kollegium zugefallen war. Das Lyzeum wurde aufgelöst. Die Schülerinnen der ersten vier Klassen traten in die entsprechenden Gymnasialklassen ein, die drei obersten Lyzealklassen wurden bis zum Abschluß (1925 und 1926) gesondert weitergeführt. Das Kollegium vergrößerte sich um drei Herren und drei Damen (Brien, Kleiner, Kerber - Janz, Else und Lotte Damrau).

Leider fehlen alle Unterlagen, um statistisch genaue Angaben über Herkunft der Schüler, Wohnort, Konfession, Größe der Klassen und über die Leistungen zu machen. Doch auch ein durchschnittliches Strukturbild ist aufschlußreich, ein Spiegelbild der gewandelten sozialen Verhältnisse des städtischen Bürgertums. Füllten früher die Söhne der Offiziere, Beamten und Angestellten, der Akademiker in freien Berufen die Klassen des Gymnasiums, so war diese Schicht des Bürgertums erschreckend klein geworden. Entlassungen und Bedrohung ihrer Existenz hatten viele Familienväter gezwungen, das Land [11] zu verlassen. Nur wenige Geistliche und Lehrer, Rechtsanwälte und Ärzte blieben zurück. In den Klassenlisten überwog der Stand der Industriellen, Kaufleute und Handwerker. Es ist nur allzu natürlich, daß Besitz bindet und zum Bleiben verpflichtet, doch es muß dankbar anerkannt werden, daß nun die Volksdeutschen Geschäftsleute und Gewerbetreibende die Träger der künstlerischen und wissenschaftlichen Vereine wurden, sie z. T. neu gründeten, obwohl sie einen harten Kampf gegen Boykottierung und Benachteiligung seitens der polnischen Behörden zu führen hatten. Neben diesen Schülern bürgerlicher Kreise stand eine kleinere Gruppe von Schülern, deren Eltern in der Landwirtschaft tätig waren und die ebenfalls ihre neue kulturelle Aufgabe erkannt hatten und vor keinem Opfer zurückschreckten. Als einzige staatliche Anstalt wurde das Thorner Gymnasium eine Sammelschule für das ehemalige Westpreußen und für Teile der Provinz Posen.


Aus Tuchel, Konitz, Stargard, Graudenz, Kulmsee, Goßlershausen, Briesen, aus Hohensaiza und Rogasen, aus den südlich der Stadt gelegenen Weichseldörfern, die vor dem Krieg zu Rußland gehört hatten4, und - versteht sich - aus dem eigenen [12] Landkreis schickten in den zwanziger Jahren die Eltern ihre Söhne und Töchter aufs Thorner Gymnasium. So wuchs die Zahl der auswärtigen Schüler; der Abiturienten Jahrgang 1926 hatte nur drei Söhne Thorner Bürger.

In der Konfession überwog der Protestantismus. Meist waren die deutschen Katholiken aus nationalen Gründen nach 1920 abgewandert, auch die jüdische Bevölkerung hatte sich für Deutschland entschieden. Katholische und jüdische Schüler machten deshalb nur einen geringen Prozentsatz in der Schule aus. - Die Klassenfrequenz entsprach einer vorbildlichen Norm. Die Gesamtzahl der Schüler lag zwischen 300 und 250. Die Schule war wie alle Gymnasien in Polen achtklassig. -

Um über die Leistungen der Schüler etwas auszusagen, muß zunächst auf den Lehrplan und die Unterrichtsweise eingegangen werden. Grundsätzlich war der Lehrplan der polnischen Gymnasien verbindlich. Wir wurden als Filiale eines humanistischen Gymnasiums geführt, das etwa unserem früheren Realgymnasium entsprach. Der Unterricht im Griechischen lief deshalb aus. Französisch galt als erste Fremdsprache, Latein begann in der dritten Klasse, Englisch wurde fakultativ in der Oberstufe erteilt. Mathematik war ebenso wie die Sprachen Hauptfach. Für unsere Schule hätte es einiger Ergänzungen des Lehrplans bedurft: für unsere Schüler war Deutsch die Muttersprache und Polnisch eine Fremdsprache, - der Stoffplan für Geschichte und Erdkunde ließ die deutschen Belange außer acht, - ein Plan für evangelische Religion lag nicht vor. Da die Behörde - wahrscheinlich weil dringlichere Aufgaben vorgingen - keine besonderen Richtlinien aufstellte, mußten wir uns alleine helfen. Wir hielten uns, soweit es möglich war, an die deutschen Pläne und versuchten, den Schülern zusätzlich in den Kernfächern Religion, Deutsch, Geschichte und Erdkunde das zu übermitteln, was ihre Altersgenossen "drüben", im Reich, in der entsprechenden Schule lernten. Das bedeutete eine wesentliche Mehrbelastung des Schülers und stellte an den Lehrer hohe methodische Anforderungen. Dazu kam die Schulbüchernot. Alle alten und neuen Auflagen deutscher Schulbücher waren verboten. Wir halfen uns mit Lesebogen, Quellenheften u. ä., mit sogenannter "Lektüre", gegen die man nichts einwandte. Eine wesentliche Hilfe wenigstens für die Unterstufe gab uns "der Landesverband deutscher Lehrer und Lehrerinnen in Polen". Die Verbandsleitung hatte die W. Johne's Buchhandlung in Bromberg erworben und sie [13] zu einer Verlagsbuchhandlung auf genossenschaftlicher Grundlage umgestaltet. Hier erschienen im Laufe der zwanziger Jahre mit behördlicher Genehmigung ein deutsches Lesebuch für Volksschulen und eine polnische Geschichte in deutscher Sprache von Willi Damaschke5.

Verhältnismäßig günstig waren wir mit Erdkunde- und Geschichtskarten dran, die man uns großzügig bei den Umzügen aus den Hauptgebäuden des Gymnasiums und Lyzeums gelassen hatte. Einem besonderen Umstand - der gegenseitigen Wertschätzung des polnischen und deutschen Physikers, die sich kaum verständigen konnten - war es zu verdanken, daß uns die naturwissenschaftlichen Räume des polnischen Gymnasiums stundenweise zur Verfügung standen. Auch die Turnhalle und den botanischen Garten konnten wir zu bestimmten Zeiten benutzen. Unser baufälliges altes Schulgebäude mit abgetretenen Holztreppen, Kachelöfen, niedrigen Räumen und Fluren hatte keinen Physik- und Chemiesaal. Für den Zeichenunterricht, für die Morgenandacht und Schulfeiern stand ein größerer Klassenraum im Erdgeschoß zur Verfügung6. Es ist vielleicht auch nicht überflüssig, daran zu erinnern, daß alle technischen Hilfsmittel, die heute den Unterricht beleben und das Lernen erleichtern, (Lichtbild, Schulfilm, Rundfunk, Sprechplatte) damals erst im Entstehen waren. Wer heute die mit Lehrmitteln reich ausgestatteten und in jeder Hinsicht durchdachten modernen Schulgebäude kennt, mag zweifelnd fragen, ob unter solchen Umständen ein wissenschaftliches Ergebnis erzielt werden konnte. Die Frage muß ohne Überheblichkeit bejaht werden. Was an Material und technischer Vollkommenheit fehlte, das mußte die Phantasie ersetzen. Schöpferische Phantasie ist immer die Grundvoraussetzung für geistige Arbeit und Leistung7. Den humanistischen Schulen war es stets in erster Linie darum zu tun, die Jugend an begriffliches Denken und an innere Anschauung zu gewöhnen. Bequeme und denkfaule Schüler kamen nicht weiter, dagegen steigerte sich eine nur durchschnittliche Begabung oft durch steten Willen und Einsatzbereitschaft. Das Reifezeugnis wurde von jeder deutschen und polnischen Universität anerkannt.

[14] Die größte Anstrengung - auch für begabte und sonst gute Schüler - brachten die Anforderungen in der polnischen Sprache. Fast die Hälfte der Schüler hatte im Polnischen Nachhilfestunden. Die beiden Polonisten der Anstalt setzten einfach zuviel voraus, auch gab es in den zwanziger Jahren noch keine methodisch aufgebauten Schullehrbücher, keine Grammatiken und Wörterbücher, es existierten nur einige wenige, zweckgebundene Lehrbücher für Erwachsene. Die Versetzungs- und Prüfungsbestimmungen waren hart, für ein "Mangelhaft" in Polnisch war kein Ausgleich möglich. Nur starker Wille und eiserner Fleiß konnte diese Schwierigkeit überwinden und oft genug auch eigenen inneren Widerstand brechen. Je sicherer der Schüler die fremde Sprache beherrschte, je mehr er von der Geschichte, Dichtung und Kunst des polnischen Volkes wußte, umso mehr änderte sich seine Stellung in der Umwelt, umso weltweiter wurde sein Blick. Eine enge Einstellung der Erzieher hatte die Jugend früherer Jahre in Unwissenheit gehalten, hatte alles, was Polen betraf, einfach totgeschwiegen. Nun konnten die jungen Menschen selber urteilen und ihre Haltung bestimmen. Die Gefahr, dabei dem eigenen Volkstum entfremdet zu werden, war gering. Das Vorbild und Vorleben der Eltern, Lehrer und jener Mitschüler, die aus den ehemaligen russischen Gebieten kamen und Polnisch von Jugend an gelernt hatten, wog stärker. Die älteren Schüler wußten sehr wohl, daß sich auch ihre Lehrer mit der polnischen Sprache abmühten und nachmittags polnischen Unterricht nahmen, - ihnen konnte ferner die sachliche Zusammenarbeit in dem national geteilten Kollegium nicht verborgen bleiben, auch nicht die Achtung, die den Kollegen des polnischen Gymnasiums entgegengebracht wurde. Jugendliche Zusammenstöße wurden auf beiden Seiten in den ersten Anfängen so unterbunden, daß sie harmlos blieben und keinen Haß zeugten und schürten. Dabei hätte aber auch kein Schüler an der nationalen Gesinnung seiner deutschen Lehrer gezweifelt. In aller Öffentlichkeit bekleideten sie ein Amt in den deutschen Vereinen, sie gehörten dem "Landesverband deutscher Lehrer und Lehrerinnen in Polen" an, sie hielten im "Coppernicusverein für Wissenschaft und Kunst" Vorträge, stützten die "Deutsche Bühne" und spielten im gesellschaftlichen Leben der deutschen Minderheit eine Rolle. Die Schulbehörde sah darüber hinweg oder schritt nicht dagegen ein. Nie wirkte sich in den ersten 10 Jahren die Hetze chauvinistisch-polnischer Kreise und Zeitungen im Schulleben aus. Das Kuratorium ließ der deutschen Filiale eine gewisse Freiheit und Selbständigkeit, während man den vom deutschen Schulverein unterhaltenen Privatschulen oft Schwierigkeiten machte8.

[15]

Eine fruchtbare, erfolgreiche Arbeit war auch durch den ruhigen, steten Ablauf der Unterrichtsstunden gewährleistet. Das Schuljahr begann am 1. September und schloß Ende Juni. Es wurde nur durch 14tägige Weihnachts- und Osterferien, den Nationalfeiertag am 3. Mai, einen Schulausflugstag und die kirchlichen Feiertage unterbrochen. Im ganzen war diese ungestörte Schularbeit erfreulich, wenn sie uns heute auch nüchtern und altmodisch anmutet. Der Schüler wurde dadurch an straffe Arbeit und Pflichterfüllung gewöhnt, erledigte ebenso gewissenhaft seine häuslichen Aufgaben und gewann Zeit für seine Neigungen und Wünsche. Nur die Fahrschüler waren mit ihren weiten Wegen und oft schlechten Bahnverbindungen übel dran. Für die andern gab es am Nachmittag und Abend genug Möglichkeiten einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Da die Zahl der auswärtigen Schüler überwog, war es ein großes Glück, daß die Schülerpensionen [16] nicht nur auf Erwerb aus waren, sondern den Jungen und Mädchen ein wirkliches Heim boten. Von unschätzbarem Wert wurde die häusliche Pflege des Spiels, besonders an langen Winterabenden. Wohl immer trägt das Leben einer Minderheit im Ausland mehr familiären und persönlichen Charakter als im Mutterland, Erwachsene und Jugendliche sind enger miteinander verbunden. Auch das Lehrerschülerverhältnis stand unter einem guten Stern. Es gab außerhalb der Schulzeit manche Begegnung als Deutscher, nur durch Alter und Erfahrung unterschieden. So war die deutsche Schülerrudermannschaft dem Herrenruderverein angegliedert worden, weil im Gymnasialruderverein die polnischen Schüler das Übergewicht erlangt hatten und die Boote für sich beanspruchten. Den Vorsitz führte Professor Hilgendorf, noch heute erinnern sich Lehrer und Schüler gern an viele frohe Trainings- und Wanderfahrten auf Weichsel und Drewenz. - Auch die Riege der Turner und Leichtathleten beim deutschen Männerturnverein stand unter Hilgendorfs Leitung, hier wurde manch ein Schüler zu einem tüchtigen Turner herangezogen. - Für Eislauf und Tennisspiel stellte der polnische Sportverein gute Plätze zur Verfügung, die ohne Schwierigkeiten von der deutschen Jugend mitbenutzt werden konnten. - Der neue Mittelpunkt des deutschen kulturellen und gesellschaftlichen Lebens wurde das "deutsche Heim". Es lag versteckt in einem schönen Garten zwischen Altstadt und Neustadt an einem Fußweg, der von der Gerberstraße durch den Durchbruch der Stadtmauer zur Karlstraße führte. Von hier aus hatte man einen malerischen Blick auf den "Danzker" und über einige Grabenzüge östlich der 1454 zerstörten Burg. Aus dem barackenartigen Haus, das während des 1.Weltkrieges als Soldatenheim gedient hatte, wurde ein massiver stattlicher Bau mit Gaststätte, Vereinsräumen und einem Theatersaal. Hier sahen die Schüler die Aufführungen der deutschen Thorner und Bromberger Laienbühne (Unvergeßlich: "Der Strom" von Max Halbe und "Der Erbförster" von Otto Ludwig; die Gastspiele der Bromberger: Schillers "Räuber" und Goethes "Faust"). Für Konzerte und Vorträge durfte man zunächst die Aula des Gymnasiums in der Strobandstraße benutzen, (Greulich-Quartett - Posen, Professor Kühnemann: Schiller-Vortrag, Will Vesper: eigene Werke, Filchner u. a.) Die Berliner Philharmoniker gaben ihr Konzert in der Altstädtischen Evangelischen Kirche. Nach der Eröffnung des eigenen deutschen Heims fanden dort auch alle Vorträge aus den Reihen des Coppernicusvereins, der wissenschaftlichen Vereine in Posen und Bromberg und der Redner aus dem Reich statt (Professor Kluckhohn: Deutsche Romantik, Dr. Erich Drach: Rezitationen, u. a.) Die musikalischen Darbietungen des Männergesangvereins standen auf beachtlicher Höhe. Schließlich wurde im deutschen Heim jedes Fest gefeiert: der Abiturientenball, Stiftungs- und Jahresfeste, Bazare und Fasching.

[17] Zum Schluß sollen noch zwei kurzlebige, lockere Schülervereinigungen genannt werden, die eben in den zwanziger Jahren möglich waren und vielleicht für die Entwicklung des einen und anderen nicht ohne Bedeutung. Die Mutter eines Schülers, Frau Olga Härtung, leitete in aller Stille einen Bibelkreis. Sie stellte ihre eigenen Räume im 3. Stock eines Mietshauses zur Verfügung, in denen sich am Sonnabendnachmittag manchmal bis 60 Jungen und Mädchen einfanden. Gemeinsames Wandern und Singen der "B. K.ler" war für die Jugendlichen umso höher einzuschätzen, als es in Thorn damals keine Wandervogelgruppe mehr gab9 und die Singbewegung erst später einsetzte. - Die zweite Vereinigung umfaßte die Schülerinnen der Oberstufe und war im Einverständnis mit dem Direktor von Frau Wohlgemuth ins Leben gerufen worden. Die Koedukation hatte sich unterrichtlich und erzieherisch vorteilhaft ausgewirkt, dennoch gab es eine Reihe von Lebensfragen, die sich besser getrennt erörtern ließen, und weibliche Neigungen und Begabungen, die bei der Zusammenerziehung nicht gefördert wurden. Die Zusammenkünfte der "Iduna" waren einmal monatlich. In der Adventszeit wurde ein Krippenspiel gespielt, im Sommer gab es für die Schülerinnen der Mittel- und Unterstufe ein Gartenfest bei Immans in Rudak. Die "Großen" führten für die "Kleinen" ein Märchen auf, bewirteten sie, spielten mit ihnen Kreisspiele und tanzten zusammen Volkstänze. Wenn sich zum Abschied beim Dunkelwerden die Hände reichten, ein großer Kreis sich bildete und das "Kein schöner Land" unter blühenden Linden gesungen wurde, dann erlebte jeder auf seine Weise, was Heimat und schulische Verbundenheit ist.

Anfang der dreißiger Jahre war es mit dieser immerhin noch erfreulichen Schulzeit zu Ende. Die Veränderung bahnte sich langsam an. Sie begann mit einer vorzeitigen Pensionierung von Professor Prowe während der Sommerferien 1927. Zwar ernannte die Behörde ihn noch zum Direktor, die Anstalt wurde nicht mehr "Filiale" genannt, sondern "Staatliches Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache"10, aber die plötzliche Entlassung des bewährten Leiters war bitter. Seine ersten beiden Nachfolger polnischer Nationalität (Direktor Exner bis 1932 und Direktor Dr. Rediger bis 1937) waren ältere Akademiker und hatten bis 1920 im deutschen Schuldienst gestanden. Beide Herren traten äußerst korrekt auf, Direktor Exner fast zurückhaltend, so daß sich der Wechsel in der Leitung zuerst wenig be[18]merkbar machte, umso spürbarer war die Lücke im deutschen Lehrerkreis. Sie wurde noch größer, als Professor Hilgendorf mit dem Schuljahr 1928/29 ausschied, um die Leitung des Graudenzer deutschen Privatgymnasiums zu übernehmen. Der französische Unterricht auf der Oberstufe wurde Kolleginnen vom polnischen Gymnasium übertragen, zuletzt Frau Stroinska. In den Jahren 1931-1932 und 1934 erfolgten dann vier Kündigungen: Frau Wohlgemuth, Professor Dr. Mautsch, Professor Wilck und Professor Brien wurden entlassen. Damit erhielt das Kollegium des deutschen Gymnasiums ein anderes Gesicht: für jeden scheidenden deutschen Lehrer trat eine polnische Lehrkraft ein: Prof. Jakubowski als Altphilologe, Prof. Sokolowski, später Prof. Cieslinski als Historiker, Prof. Brzeski als Germanist. Auch die Polonisten wechselten. Prof. Weglorz wurde von Prof. Krajewski abgelöst. Die Absicht der Regierung, die Anstalt zu polonisieren, war offenkundig. Die polnischen Lehrer hatten das Übergewicht erlangt,



im Lehrerzimmer und in den Konferenzen wurde polnisch gesprochen, der Geschichtsunterricht wurde in polnischer Sprache erteilt, der deutsche Unterricht in einigen Klassen von einem polnischen Fachlehrer für Deutsch. Schüler und Schülerinnen mußten eine dunkelblaue Uniform tragen, auf dem Ärmel war das Schulnummerschild aufgenäht. Die Zugehörigkeit zu deutschen Vereinen wurde verboten.

[19]Ein neuer harter Schlag traf die Schule, als der Tod zwei deutsche Lehrer im besten Mannesalter dahinraffte: im April 1935 starb Professor Renee, im November 1937 Professor Fellner. In demselben Jahr verlor die Schule auch ihren 3. Leiter, Herrn Direktor Dr. Franz Rediger. Ein vierstimmiger Primanerchor sang am Grabe der Verstorbenen bzw. bei der Totenmesse. Professor Fellner wurde auf dem Waldfriedhof in München beigesetzt, als Vertreter der Anstalt gab Prof. Brzeski das Geleit. An dem feierlichen Requiem in der Marienkirche für Direktor Rediger nahm auf Anregung des Religionslehrers Pfarrers Dey auch ein Vertreter des Generalkonsulats teil. Seine letzte Ruhestätte fand Dr. Rediger in Kulm, der Primanerchor begleitete den Sarg und sang bei der Feier auf dem Friedhof einen alten lateinischen Satz. - Für Herrn Renee trat im Januar 1936 Dr. Schienemann ins Kollegium ein. Er und Professor Kleiner waren die beiden letzten Jahre hindurch die einzigen deutschen Akademiker an der Schule. Außenstehende haben das Gymnasium kaum noch als deutsche Schule angesehen, aber es ist grundfalsch, von einer "polnischen" Anstalt zu sprechen. Die Schüler waren deutsche Jungen und Mädchen, die weder durch polnische Lehrer noch durch die polnische Schulsprache Polen wurden. Wer national unsicher war und aus utilaristischen Gründen mit Polen sympathisierte und als Pole gelten wollte, der hatte es viel bequemer, seine Kinder von vornherein auf das polnische Gymnasium zu schicken. Der Besuch einer Minderheitenschule erforderte Mut und Bekennen!

Man könnte bemängeln, daß die reichsdeutschen Lehrpläne unbeachtet blieben, und bedauern, daß kaum eine persönlich-herzliche Verbundenheit zwischen polnischen Lehrern und deutschen Schülern zustandekommen konnte. Das ist richtig, war aber nicht entscheidend, weil nun das Elternhaus das, was die Schule in völkischer Hinsicht versäumte, leichter ausgleichen konnte als in den unruhigen Jahren des politischen Übergangs und der wirtschaftlichen Not der Nachkriegszeit und Inflation. Die deutsche Minderheit war eine geschlossene selbstbewußte Volksgruppe in Polen geworden. Überall, in Städten und Dörfern, wurden alle Lebensäußerungen des Deutschtums erforscht, in wissenschaftlichen Zeitschriften, Monatsheften und Bildbänden veröffentlicht, Singbewegung, kirchliche Vereine und evangelische Kindergärten pflegten das deutsche Lied und deutsches Brauchtum. In jedem deutschen Haus Pommerellens las man die "Deutsche Rundschau in Polen", die von Gotthold Starke in Bromberg geleitete Tageszeitung. Als die ersten Rundfunkapparate käuflich waren, hörte man deutsche Sender. Dazu kam, daß die Schüler des deutschen Gymnasiums wieder überwiegend in der Stadt und im Landkreis Thorn beheimatet waren. Die Rolle einer Sammelschule übernahmen die beiden deutschen Privatschulen in Graudenz und Bromberg, die in den dreißiger Jahren vorbildliche, moderne Schul[20]gebäude erhalten hatten. Wenn auch das Schulgeld teurer war als an der staatlichen Anstalt und die Reifeprüfung vor einer fremden Kommission abgelegt werden mußte, so zogen es doch viele Eltern des ehemaligen Westpreußens und Netzegaus vor, ihre Kinder dorthin zu geben. Als außerdem 1932 in Polen durch das neue Schulgesetz der Besuch von 6 Klassen der Volksschule vor dem Eintritt in die Oberschule angeordnet wurde, sank die Gesamtzahl der Schüler des Thorner deutschen Gymnasiums auf 150/110 herab. - Wenn sich in einzelnen wissenschaftlichen Fächern für den deutschen Schüler im Vergleich zu seinen Altersgenossen im Reich Lücken ergaben, dann wurden sie ausreichend kompensiert durch polnisch-osteuropäische Studien.

[Nach Hellmut Neumann handelt es sich bei dem 2. Herrn von links nicht um Herrn Sokołowski sondern um Herrn Krajewski.]

Es ist immer das Recht und ein Vorzug der Jugend, jede Gegenwart zu bejahen und sich das Beste herauszusuchen. Nie hat sich der Thorner Gymnasiast der dreißiger Jahre "bedauernswert" gefühlt. Das Schulleben hatte für ihn - wie überall - seine Freuden und Leiden, seinen Spaß und Frohsinn, seine Ängste und Nöte. Von Kindheit an war er die polnische Umwelt gewöhnt und zur Wachsamkeit erzogen (es handelt sich bereits um die Generation der nach 1920 [21] geborenen Kinder). Bei tüchtigen Pädagogen, ob deutsch oder polnisch, lernte er gern. Die Kameradschaft mit Klassen- und Altersgenossen, die Klassenfahrten, die 1939 bis nach Zakopane führten, sind besondere Lichtpunkte. Die Sorgen der Eltern um die Zukunft, die schwierige Lage der beiden deutschen Lehrer im Kollegium, den sich anbahnenden parteipolitischen Gegensatz innerhalb der bis dahin so einmütigen deutschen Minderheit: das alles erlebte die Schuljugend mit, ohne die folgenschwere Bedeutung ganz zu erfassen. Dann kam jäh der Ernst des Lebens. Am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg. Am 7. September traf die Vorhut der deutschen Wehrmacht in Thorn ein, - das "Staatliche Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache" hatte aufgehört zu existieren, im Schulgebäude brachte man Verwundete unter. Sobald es die politischen und zivilen Verhältnisse zuließen, wurde der Unterricht wieder aufgenommen. Nur wenige wissen heute noch unter welchen Umständen. Die kleine deutsche Thorner Volksgruppe hatte das Grauen der ersten Kriegswochen noch nicht überwunden, in fast jeder Familie beklagte man den Tod eines Angehörigen oder bangte um die Gesundheit derer, die von der Verschleppung zurückgekehrt waren. Die neue deutsche Obrigkeit (Beamte aus Fürth/Bayern) enttäuschte wegen ihrer völligen Unkenntnis der einheimischen Verhältnisse und wegen ihrer anmaßenden, selbstherrlichen Haltung. Es ist dem unermüdlichen Einsatz von Professor Kleiner, Pfarrer Dey und Dr. Schienemann zu danken, daß die zerstreuten Schüler gesammelt wurden und in dem inzwischen wieder leer gewordenen Schulgebäude Unterricht erhielten. Man begnügte sich zunächst mit Schichtunterricht. Pfarrer Dey erteilte außer Religion noch Latein und Französisch. So fand eine später eingesetzte deutsche Schulbehörde in Thorn ein deutsches Gymnasium vor. Sie konnte darauf aufstocken und das Gymnasium in das Gebäude in der Strobandstraße zurückverlegen.

Im Januar 1945 wurde es als deutsche Anstalt geschlossen. Über dreieinhalb Jahrhunderte hat das Thorner deutsche Gymnasium selbständig, 19 Jahre als "Staatliches Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache" bestanden. - Heute sind Lehrer und Schüler tot oder wohnen zerstreut in Mittel- und Westdeutschland und im Ausland. Aber der Geist der Schule ist unsterblich. Thorn, die alte Ordens- und Hansestadt an der Weichsel, hat ihren Kindern Heimatliebe und Weltweite mitgegeben, das verpflichtet auch die Enkel, - das sind zwei Pfeiler, die, richtig untermauert, einen Neubau tragen könnten.

Nachtrag (Quellennachweis)

Diese Schrift ist auf Grund von Erinnerungen entstanden, erweitert und bestätigt durch mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch mit den noch lebenden Kollegen, vielen Schülern und Schülerinnen und Freunden des Thorner Gymnasiums. Auch lagen einige [22] Zeugnisse im Original und Photographien vor. Der unermüdlichen Hilfe von Herrn Professor Lic. Kruska verdanke ich besonders viel.

Ferner standen mir zur Verfügung:

  1. Führer durch Thorn, hrsg. vom Verkehrsverein, 1917
  2. Illustrierter Führer durch Thorn und Umgebung, hrsg. von Leo Woerl, Leipzig 1903
  3. Der prachtvolle Bildband "Thorn" mit einer kurzen Geschichte der Stadt von Reinhold Heuer, Deutscher Kunstverlag, Berlin 1931, 21941, der leider bis heute noch nicht wieder erschienen ist.

[Wenn Sie die Fußnoten-Nummer anklicken, führt Sie dies zurück zu Ihrem Ausgangspunkt.]

1) Rudi Trenkel: "390 Jahre Thorner deutsches Gymnasium" im Westpreußen Jahrbuch 1959.
2) Das Gebäude wurde im April 1813 bei der Beschießung der Stadt durch die Russen zur Ruine und später abgerisssen.
3) Daß in zwei Räumen noch die auslaufenden Klassen der "Mittelschulen" untergebracht wurden störte nicht; mit den Kollegen: Rektor Panzram, Frau Pawlowski. Herrn Fritz u.a. lebte man in guter Eintacht.
4) Die stille, aufopferungsvolle, durch Jahrhunderte hin geleistete Arbeit deutscher Pastoren und Lehrer in den Kreisen östlich und westlich der Weichsel, südlich von Thorn bis Włocławek, verdiente einmal eine besondere Würdigung. Zu uns kamen Schüler aus den Dörfern: Bógpomóz, Brzozówka, Jackowo, Liciszewy, Makowisko, Skrzypkowo, Wlęcz u. a.
5) 1925 eröffnete Franz Westphal in Thorn, in der Nähe seines Papiergeschäftes, eine kleine, gepflegte deutsche Buchhandlung..
6) Herr und Frau Wiedemann, das Hausmeisterehepaar, sorgten für musterhafte Ordnung, auch hat manch ein Schüler ihre Hilfsbereitschaft und Fürsorge verspürt.
7) Konstantin Paustowskij schließt in seinem Buch "Ferne Jahre" das Kapitel über seinen Geographielehrer mit folgenden Sätzen: "Er hat mir mehrmals gegenüber geäußert, daß sich der Mensch besonders durch die Fähigkeit, Phantasie zu entwickeln, vom Tier unterscheide. Er sagte, die Phantasie habe die Kunst erschaffen, Phantasie habe die Grenzen der Welt und des Wissens erweitert, und Phantasie habe dem Leben erst das gegeben, was wir Poesie nennen."
8) Aus dem Brief eines Schülers: "Wenn ich heute 27 Jahre nach meinem Abitur (im Juni 1931) auf das deutsche Gymnasium in Thorn und auf seine Lehrer zurückschaue, dann kann ich es nur in Dankbarkeit tun. Das Gymnasium war eben ein deutsches Gymnasium und hat uns zu bewußten Deutschen erzogen, die stolz auf ihre Volkszugehörigkeit ihren Weg gegangen sind. Das Gepräge eines deutschen Gymnasiums blieb auch bestehen, als Direktor Prowe starb und Direktor Exner die Schule übernahm, . . . als für Professor Hilgendorf polnische Lehrkräfte eintraten. Eine positive Beurteilung verdient auch die Einstellung der Lehrer zum Christentum. Es war sehr fein, wenn sie nacheinander am Montagmorgen die Andacht hielten."
9) Drei junge Führer des Wandervogels, R. Kittler, H. Lüttmann und W. Ludwig, waren im Sommer des Jahres 1925 der Spionage verdächtigt worden und vier Wochen in harter Untersuchungshaft gehalten. Ein Prozeß wurde niedergeschlagen, weil sich die völlige Unschuld und Harmlosigkeit der Jugendlichen ergab. Doch der Wandervogel beschränkte sich in Zukunft auf einen kleinen Kreis meist älterer Mitglieder.
10 Państwowe Gimnazjum z niemieckim jezykiem nauczania w Toruniu.

 
zurück:      Vorwort
weiter:      Liste der deutschen Lehrkräfte
 

HEIM@THORN Editorial - Inhalt Die Thorner Stadtniederung - Inhalt Das Buch - Inhalt
Quelltexte - Inhalt Anhang - Inhalt Die Links Mein Thorn

© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 02.01.2009