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Rathausturm mit Copernicusdenkmal

Dr. P. Roggenhausen

Orscht - Kinderspiele im alten Thorn

Aus der Geschichte der Heimat



Der Westpreusse 20/1966, Seite 18

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[18]  Ich glaube kaum, daß es einen Thomer gibt, der nicht wüßte, was "Orscht" ist. Im Gegenteil: bei jedem, der in Thorn jung gewesen ist, wird dies Zauberwort Erinnerungen an Jugend und Frühling wach rufen. Jede Gegend hat ihre Frühlingsspiele. Von Walter von der Vogelweide wissen wir, daß der Frühling da war, wenn die Mägde den Ball warfen; in Danzig ist er da, wenn die Jungens auf der Straße ihre Kreisel oder "Brummer" tanzen lassen; der Thorner Frühling wurde mit Orscht begrüßt. Wenn die letzten "Weichselblumen" abgeschwommen waren und auf den Glacis die ersten Veilchen sprossen, dann wurden die Beutel mit Soldatenknöpfen hervorgeholt und das Orschtspiel begonnen; Orscht war nämlich die Rechnungseinheit, sozusagen der Münzfuß, für Soldatenknöpfe. Ein einfacher Kommißknopf galt zwei Orscht, ein Gefreitenknopf sechs, derselbe "gefüllt": zwölf Orscht, ein Obergefreitenknopf war ein Achter und ein "gefüllter" ein Sechszehner. Ein dicker Bakaienknopf war ein Vierundzwanziger, und dann gab es noch ganz dicke mit Wappen, das waren Achtundvierziger. Aber die waren sehr selten. Mein Freund Julius Schönfeld behauptete, die trugen nur Admirale. Wahrscheinlich nur der Prinz Heinrich. Und auch der nur sonntags. Und Ju- lius mußte es wissen, denn er hatte von seinem Vater, dem Kaserneninspektor, einmal mörderliche Senge bekommen, weil er ihm vom Extrarock sämtliche vergoldeten Knöpfe abgeschnitten und so sein Orschtvermögen unrechtmäßig bereichert hatte. Seitdem galt er als Autorität.

Gespielt wurde nun mit den Knöpfen auf verschiedene Weise. Man warf einen "Zweier" an die Wand, so daß er zurücksprang. Ein anderer tat desgleichen. War sein Knopf innerhalb Spannweite von dem des Partners niedergefallen, so hatte er den gewonnen, andernfalls gehörte er dem Gegner. Oder man warf nach einem "Kaulchen", wobei die Regeln des Murmelspiels galten. Am beliebtesten war aber "Bisplie". Man nahm einen Knopf in die geschlossene Hand und sagte: "Bisplie"! Der Gegner mußte die Orschtzahl raten. Riet er richtig, war der Knopf sein, andernfalls mußte er die Differenz, an Orscht zuzahlen. Bei dieser Art des Spiels wurden Vermögen gewonnen und verloren: Man könnte es auch mit Gerade und Ungerade spielen. Um richtig zu raten, kniff man mit zwei Fingern die Haut des Handrückens zusammen. Die Anzahl der entstehenden Hautfalten sollte die Zahl der verborgenen Orscht angeben. Man sieht das Spiel wird mit "System" gehandhabt.

Nun war auf der Bromberger Vorstadt ein wirklicher Graf zugezogen. Er war Rittmeister bei den Ulanen und imponierte uns riesig. Noch mehr aber seine Frau, die Gräfin. Die trug nämlich einen cul de Paris oder eine Tournüre, d. h. ein Kissen zur Hervorhebung der unteren Rückenpartie, wie das in den achtziger Jahren höchster Chic war. Die Toumüre der Gräfin war aber so ungeheuer, daß wir Jungens uns bequem hätten rittlings daraufsetzen können. - Eines Tages kam nun Julius in höchster Aufregung angelaufen und schrie schon von weitem: "Ich hab'n Admiral gesehen, der wohnt beim Grafen! Er hat'n Rock mit lauter Achtundvierzigern, ich hab' sie gezählt: zwanzig Stück!" Wir waren baff vor Ehrfurcht! 20 mal 48 gleich 960 Orscht! Donnerwetter! - Seitdem lungerten wir jede freie Stunde vor dem gräflichen Hause herum. Eines Nachmittags fuhr der Krümperwagen vor, wir reckten die Hälse. Da kam der Graf: Czapka, Fangschnüre, Helmbusch, rote Paradebrust, Epaulettes, silberne Schärpe. Dann die Gräfin: Federhut, Tournüre, Schleppkleid, und dann kam der - Admiral! Er hatte einen langen blauen Gehrock an, und daran funkelten die 960 Orscht. Der Admiral stieg - auf den Bock. Da merkten wir, daß es bloß der Bursche war. Der war in einen Galarock gesteckt worden, denn der Graf wollte Antrittsbesuche machen. Die Knöpfe aber trugen die gräflichen Initialen mit der neunzackigen Krone.

Als wir wieder einmal vor dem Grafenhause Orscht spielten, gesellte sich Komteß Wanda zu uns. Das war die älteste Grafentochter. Interessiertes Zuschauen. Fragen. Mitspielenwollen. Ohne Orscht? Andeutungen über die riesigen Vermögenswerte am Rock des "Admirals". Überredung. Sie verschwindet. Erscheint nach zehn Minuten mit einem grellen Pompadour. Inhalt: die sämtlichen 960 Orscht des Admirals!!! Zitternde Aufregung; gedämpftes Triumphgebrüll!

Jetzt begann ein Spiel, wie wir es noch nie erlebt hatten. Die Komteß nahm einen Knopf in die Hand und sagte: "Bisplie!" - Achtundvierzig sagte Julius. Wieder griff sie in den Pompadour. "Bisplie"! - "Achtundvierzig" sagte ich! Bei den nächsten Malen machten wir die Handrückenprobe. Wir zögerten auch mit der Antwort. Zwanzigmal wiederholte sich das Spiel: "Bisplie" - Achtundvierzig!

Soviel Dammlichkeit ist uns noch nicht vorgekommen. Als der letzte Achtundvierziger in unsere Beutel gewandert war liefen wir weg. Sie stand da, machte ein furchtbar dummes Gesicht, und es zuckte um ihre Nase. Da lief Julius zurück und drückte ihr einen Sechser in die Hand.

Jetzt wagten wir uns nicht mehr allzu nahe an das Grafenhaus. Eines Tages fuhren Krümperwagen und Kutschen vor. Grafs gaben Gesellschaft Plötzlich sahen wir den Admiral die Treppe des Stallgebäudes, wo seine Stube war, herunterlaufen. Er hatte seinen Rock überm Arm. Knöpfe: Fehlanzeige! - Auf der Schwelle des Hauses aber stand der Graf. Sein Gesicht war rot wie seine Paradebrust, und er brüllte. Dann hörten wir Komteß Wandas Stimme und bald darauf das Pfeifen einer Reitpeitsche. Aber kein Mädchengeschrei, nicht einen Laut! Das imponierte sogar Julius, und der war doch sachverständig!

Nach langer Zeit standen wir wieder etwas näher heran und spielten Orscht. Die Achtundvierziger des Admirals waren inzwischen durch ganz Thorn gewandert. Da kam die Komteß. Als sie an uns vorbeiging, sagte sie so über die Schulter: Ich darf nicht mehr mit Gassenbuben spielen! Wie vornehm das klang! Wir sagten: Straßenbengels. Die Absage ließ uns kalt. Unsere Achtundvierziger hatten wir ja gehabt! Aber Julius sagte: "Du bist uns auch viel zu dammlig".

 

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© 2007  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 05.08.2007