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Rathausturm mit Copernicus-Denkmal

Illustrierte Zeitung


Die Weichselüberschwemmung bei Thorn

Nr. 1864. 22. März 1879. Seite 220



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[220] Der diesjährige Winter ist reich an ungewöhnlichen Erscheinungen auf den Gebieten der Meteorologie und Geologie. Zu den ersteren ist auch der Eisgang auf der Weichsel zu rechnen, welcher in Polen wie auch in Westpreußen Ueberschwemmungen von einem Umfang und einer Dauer mit sich brachte, wie solche seit dem Jahr 1855 dort nicht erlebt worden sind.

Am 15. und 16. Februar begann der Eisgang auf der oberen Weichsel. Zunächst richtete der hochangeschwollene Strom, dessen Fluten die krystallene Decke brachen und die großen Schollen zu gewaltigen Eisdämmen zusammenschoben, seine Zerstörungen bei Zawichost und Sandomir an der galizischen Grenze an. Der Hauptdammbruch in Polen erfolgte bei Gora Kalwaryna (Kalvarienberg, einem berühmten Wallfahrtsort), 64 Kilomtr. oberhalb Warschaus, wo das Hochwasser einen Landstrich von 26 Dörfern überflutete. In noch schlimmerm Grad sollte Westpreußen die Schrecken der Wassernoth erfahren. Namentlich bei Thorn zeigte die Weichsel die Gefährlichkeit ihres Charakters in einer Weise, wie man sich dessen kaum zu erinnern vermag. In der vollen Breite des Stroms nahm dort am 18. mittags der Eisgang seinen Anfang, kam jedoch abends im Hauptarm wieder zum Stehen. Seitdem stieg die Flut von Stund zu Stunde, bis sie am 19. nachmittags eine Höhe von 7,83 Mtr. erreichte. Durch das thorner Brückenthor drang das Wasser bis an den unteren Ausgang der Brückenstraße, und das ganze Weichselthal von den diesseitigen Festungswerken bis an die jenseitigen Höhen war zur wogenden See geworden, aus der nur die Straße von der Eisenbahnbrücke bis zum Bahnhof herausragte. Verheerend hauste das Hochwasser; die über den polnischen Arm der Weichsel führende Holzbrücke war bereits in der Nacht zerstört worden.

Während auf der polnischen Weichsel der Eisgang seinen Verlauf nahm, befand sich im Hauptarm eine fortgesetzte Eisstopfung, die von der Korzeniec-Kämpe bis fast an die russische Grenze reichte. Haushoch thürmten sich die Schollen stellenweise in der Stromesmitte zusammen. Die Wassermassen wälzten sich daher durch den polnischen Weichselarm und überfluteten die südlich gelegenen Ländereien. Hinter der korzeniecer Kämpe nahm das Wasser seinen Weg quer durch die eigentliche Weichsel und von dort, da eine abermalige Eisstopfung den Abfluß hinderte, durch die nördliche Niederung. Hier sah es allerwegen traurig aus. An vier Stellen, bei Pensau, Schmolln, Czarnowo und beim Schlussdeich am Eichenbusch, hatten Dammbrüche stattgefunden, und die entfesselten Fluten ergossen sich weithin über die Niederung. Grausig tönten am 18. die Sturmglocken der vom Wasser bedrängten Ortschaften durch die Nacht. In Górski, Pensau und Czarnowo am rechten Weichselufer ragten viele Häuser nur noch mit dem Giebel aus dem Wasser, und die Bewohnerverlebten entsetzliche Stunden. Von Schulitz auf der linken Seite des Stroms war gleichfalls ein Theil überflutet, ebenso die Ländereien der Niederungsorte Otterau, Langenau, Ezersk, Brahnau, Sierneszek, Deutsch-Fordon. In Langenau hatte das Hochwasser ein Haus theilweise zerstört, eine Menge Gebäude unter Wasser gesetzt, in Schmolln ein Gehöft fortgerissen, und von Schloß Dybow, das ganz von der Flut umschlossen war, wehte die Nothfahne. Auf den Kämpen standen die Gebäude bis an das Dach unter Wasser, und die Bewohner hatten, sich großentheils in die Stadt oder auf die Höhe geflüchtet.

Auch die Weichsel abwärts sah es schlimm aus; vornehmlich war die Lage von Schwetz und der Gegend von Culm infolge einer Eisstopfung bei Deutsch-Westfalen beklagenswerth. Die schwetzer Altstadt schien geradezu dem völligen Untergang geweiht. Durch den Abbruch vieler Häuser steht dort ein großer Theil der Gebäude frei von allen Seiten. In diesen kleinen Häusern, umwogt bis zum Dach von Wasser, umspült von Eisschollen, die sie zu zerdrücken drohten, hatten die Bewohner sich auf die Bodenräume in Sicherheit gebracht und kauerten daselbst frierend und hungernd, bangen Herzens der Retter harrend, die denn auch nicht ausblieben. Die Polizei hatte, da vielen Häusern der Einsturz drohte, die Uebersiedlung sämmtlicher Bewohner der Altstadt nach der Neustadt angeordnet. Dort waren Räumlichkeiten für die auswandernden Familien eingerichtet, und mildherzige Frauen entfalteten eine rege Thätigkeit, die Armen zu speisen. Von den schwetzer Kämpen hörte man häufig Nothschüsse, Schönau war bereits von der Flut eingeschlossen, Kossowo und andere Orte erschienen gefährdet. Bei Graudenz und Dirschau hatte der Wasserstand der Weichsel gleichfalls eine bedenkliche Höhe erreicht. In den folgenden Tagen setzte sich das Eis mehrmals in Bewegung, kam jedoch sehr bald zum Stillstand; da wieder Frostwetter eingetreten war. So blieben die großen Eisstopfungen unverrückt an Ort und Stelle. Bei Graudenz hatte sich eine fast über den ganzen Strom reichende Eisstauung gebildet. Bei Fordon bestand ebenfalls ein mächtiger Eisdamm; von hier aus erblickte man einen großen Theil der überschwemmten Niederung, die weite Fläche mit gewaltigen, fest in das Wasserbett eingekeilten Eismassen bedeckt. Die geschilderte Situation, welche unser Bild recht deutlich vor Augen bringt, veränderte sich während einer Reihe von Tagen wenig, obgleich das Wasser nach dem 20. v. M. langsam fiel. Erst Ende Februar sank der Wasserstand in schnellerm Tempo; bei Warschau kehrte die Weichsel in der ersten Märzwoche in ihr normales Flussbett zurück. Der verursachte Schaden ist überall bedeutend, doch hat man wenigstens keinen Verlust an Menschenleben zu beklagen.


 

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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 13.03.2004